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Die jüngeren Fakultätsmitglieder lebten dagegen in ziemlicher Verwahrlosung. Chip hatte mit seiner zweigeschossigen Wohneinheit, in einem feuchten Schlackensteingebäude in der Tilton Ledge Lane am westlichen Ende des Campus, noch Glück gehabt. Von seiner Terrasse hinter dem Haus blickte er auf einen Bach, der den College-Administratoren als Kuyper's Creek, allen anderen als Carparts Creek bekannt war, denn jenseits davon befand sich ein sumpfiger Autofriedhof, der zum Connecticut State Department of Corrections gehörte, dem Amt für Jugendkriminalität. Zwanzig Jahre lang hatte das College vor Landes- und Bundesgerichten geklagt, um dieses Feuchtbiotop vor der «Ökokatastrophe» zu bewahren: der Trockenlegung und dem Bau einer Strafvollzugsanstalt mittlerer Sicherheitsstufe.

Solange die Sache mit Ruthie noch gut gelaufen war, hatte Chip alle ein, zwei Monate Kollegen, Nachbarn und den einen oder anderen altklugen Studenten zum Abendessen in die Tilton Ledge Lane eingeladen und ihnen Langusten, Lammrücken, Wildbret mit Wacholderbeeren und Retro-Dessertscherze wie Schokoladenfondue vorgesetzt. Manchmal, spät in der Nacht, am Kopf eines Tisches thronend, auf dem leere kalifornische Weinflaschen sich aneinander drängten wie die Hochhäuser Manhattans, fühlte sich Chip sicher genug, die Runde auf seine Kosten zu unterhalten, sich ein wenig zu öffnen und Peinliches aus seiner Kindheit im Mittelwesten zu erzählen. Etwa, dass sein Vater nicht nur Überstunden bei der Midland Pacific Railroad gemacht, seinen Kindern vorgelesen, Garten und Haus in Ordnung gehalten und allabendlich eine Aktenmappe voll

Geschäftsunterlagen durchgearbeitet, sondern auch noch Zeit gefunden hatte, im Keller seines Hauses mit großem Ernst ein metallurgisches Labor zu betreiben, in dem er oft bis nach Mitternacht seltsame Legierungen elektrischen und chemischen Belastungen aussetzte. Und dass Chip im Alter von dreizehn für die butterweichen Alkalimetalle, die sein Vater im Kerosinbad aufbewahrte, den schamhaften kristallinen Kobalt, das dralle, schwere Quecksilber, die Mattglas-Absperrhähne und den Eisessig entflammt war und sich im Schatten des väterlichen ein eigenes Juniorlabor eingerichtet hatte. Und dass er, angespornt von Alfred und Enid, die sein neues naturwissenschaftliches Interesse entzückte, sein junges Herz daran gehängt hatte, einen Preis beim regionalen Wissenschaftswettbewerb von St. Jude zu gewinnen. Und dass er in der Stadtbücherei von St. Jude eine Arbeit über Pflanzenphysiologie ausgegraben hatte, die zugleich unverständlich und einfach genug war, um als das Werk eines brillanten Achtklässlers durchzugehen. Und dass er ein hell ausgeleuchtetes kleines Treibhaus gebaut hatte, in dem er Hafer züchten wollte, die jungen Sämlinge gewissenhaft fotografiert, wochenlang sich selbst überlassen und schließlich, als er die Sämlinge wiegen und die Wirkung von Gibberellinsäure im Verbund mit einem unbekannten chemischen Faktor bestimmen wollte, festgestellt hatte, dass aus dem Hafer ausgetrockneter, schwärzlicher Schleim geworden war. Dass er trotzdem weitergemacht und die «korrekten» Versuchsergebnisse auf Millimeterpapier übertragen hatte, wobei er erst rückwärts vorgegangen war, um eine Liste von Sämlingsgewichten mit einer gewissen kunstvollen zufälligen Streuung zu fabrizieren, und dann vorwärts, um sicherzustellen, dass die fiktiven Daten auch wirklich die «korrekten» Resultate ergaben. Und dass ihm der erste Platz beim Wissenschaftswettbewerb eine einen Meter hohe versilberte Siegesgöttin mit Flügeln sowie die Bewunderung seines Vaters eingetragen hatte. Und dass er ein Jahr später, ungefähr zu der Zeit, als sein Vater das erste seiner beiden amerikanischen Patente erwarb (obwohl er sich häufig genug über Alfred aufregte, gab Chip sich Mühe, seinen Gästen einen Eindruck davon zu vermitteln, was für ein Gigant der alte Mann auf seine Weise war), dass er also ein Jahr später vorgegeben hatte, in einem Park unweit von einigen Headshops, einem Buchladen und dem Haus eines mit Tischfußball und Billard ausgestatteten Freundes Zugvögel zu beobachten. Und dass er dort in einem Hohlweg auf ein Versteck mit primitivsten Pornozeitschriften gestoßen war, über deren aufgequollenen Seiten er zu Hause im Kellerlabor, wo er, anders als sein Vater, nie ein richtiges Experiment durchgeführt oder auch nur den mindesten Stich wissenschaftlicher Neugier verspürt hatte, endlos die Spitze seines Gliedes wund gerieben hatte, ohne zu begreifen, dass dieses quälende Hin- und Herstreichen einen Orgasmus regelrecht unterdrückte (ein Detail, an dem seine Essensgäste, von denen viele ganz der Schwulentheorie verpflichtet waren, besonderen Gefallen fanden) und dass er als Belohnung für seine Lügen und seine Selbstbefleckung und seine Faulheit eine zweite Siegesgöttin mit Flügeln gewonnen hatte.

Von Rauchschwaden umhüllt, fühlte sich Chip, während er seine verständnisvollen Kollegen beim Essen unterhielt, in dem Wissen geborgen, dass seine Eltern kein falscheres Bild davon hätten haben können, wer er war und für welchen Werdegang er sich eignete. Zweieinhalb Jahre lang, bis zu jenem katastrophalen Thanksgiving in St. Jude, hatte er am D — College nicht das geringste Problem. Doch dann gab Ruthie ihm den Laufpass, und um das Vakuum zu füllen, das sie hinterließ, nahm eine Studienanfängerin, gewissermaßen im Sturzflug, ihren Platz ein.

Melissa Paquette war die begabteste Studentin im Proseminar «Konsum oder Kritik: Vom Umgang mit Texten», das er in seinem dritten Frühling am D — College unterrichtete. Melissa war eine majestätische, theatralische Person, neben der offenbar keiner der anderen Studenten sitzen wollte, einerseits, weil sie sie nicht leiden konnten, andererseits, weil sie immer in der ersten Reihe saß, unmittelbar vor Chip. Mit ihrem langen Hals und den breiten Schultern sah sie nicht direkt schön aus — eher prächtig vielleicht. Ihr Haar war völlig glatt und von der Kirschholzfarbe frischen Motoröls. Sie trug Kleider aus Ramschläden, die ihr nicht unbedingt schmeichelten: eine bunt karierte Männer-Freizeitkombi aus Polyester, ein Trapezkleid mit Paisleymuster, einen grauen Monteursanzug, auf dessen linke Brusttasche der Name Randy gestickt war.

Mit Leuten, die Melissa für Schwachköpfe hielt, hatte sie keine Geduld. Als sich in der zweiten Sitzung von «Konsum oder Kritik» Chad, ein netter junger Kerl mit Dreadlocks (in jedem Kurs am D — College saß mindestens ein netter junger Kerl mit Dreadlocks) darin versuchte, die Theorien von Thorstein «Webern» zusammenzufassen, fing Melissa an, Chip verschwörerisch anzugrinsen. Sie rollte die Augen, bildete mit dem Mund das Wort «Veblen» nach und griff sich ins Haar. Es dauerte nicht lange, und Chip achtete weit mehr auf ihre Pein als auf Chads Vortrag.

«Entschuldige, Chad», unterbrach sie ihn schließlich. «Heißt er nicht Veblen?»

«Vebern. Veblern. Sag ich doch.»

«Nein, du hast Webern gesagt. Er heißt Veblen.»

«Veblen Okay. Vielen Dank, Melissa.»

Melissa warf ihr Haar zurück und schaute, nach erfolgreicher Mission, wieder zu Chip. Den bösen Blicken, die ihr von Chads Freunden und Sympathisanten zugeworfen wurden, schenkte sie keine Beachtung. Um sich von ihr zu distanzieren, schlenderte Chip in eine ferne Ecke des Raums und bat Chad, mit seiner Zusammenfassung fortzufahren.

Am selben Abend, vor dem Studentenkino in der Hillard-Wroth-Halle, schob und drängelte sich Melissa durch die

Menge, um Chip mitzuteilen, wie sehr sie Walter Benjamin verehre. Sie stand, fand er, zu dicht neben ihm. Sie stand auch ein paar Tage danach, bei einem Empfang für Marjorie Garber, zu dicht neben ihm. Sie kam quer über den Lucent Technologies Lawn (ehemals South Lawn) galoppiert, um ihm eine der kurzen Hausarbeiten in die Hand zu drücken, die in «Konsum oder Kritik» jede Woche zu schreiben waren. Sie erschien wie aus dem Nichts auf dem Parkplatz, der unter dreißig Zentimeter hohem Schnee begraben lag, und half ihm mit ihren in Fäustlingen steckenden Händen und ihrer beträchtlichen Spannweite beim Ausbuddeln seines Wagens. Sie trampelte mit ihren fellbesetzten Stiefeln einen Pfad frei. Sie hörte nicht auf, die Eisschicht auf seiner Windschutzscheibe zu bearbeiten, bis er sie am Handgelenk packte und ihr den Kratzer wegnahm.