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Chip war Beisitzer in dem Ausschuss gewesen, der die neuen, strengen Richtlinien für Kontakte zwischen Fakultätsmitgliedern und Studenten des Colleges festgelegt hatte. Nirgendwo war dort die Rede davon, dass ein Student einem Professor nicht helfen dürfe, dessen Auto vom Schnee zu befreien, und da Chip sich überdies seiner Selbstdisziplin gewiss war, hatte er eigentlich nichts zu befürchten. Und doch begann er schon bald, in Deckung zu gehen, wann immer er Melissa auf dem Campus erspähte. Er wollte nicht, dass sie angaloppiert kam und sich zu dicht neben ihn stellte. Und als er sich bei der Überlegung ertappte, ob ihre Haarfarbe aus der Tube stammte oder nicht, klopfte er sich sofort auf die Finger. Er fragte sie auch nie, ob sie es gewesen war, die am Valentinstag den Strauß Rosen und an Ostern die Michael-Jackson-Figur aus Schokolade vor die Tür seines Büros gelegt hatte.

Im Seminar rief er Melissa ein bisschen seltener auf als andere. Mit besonderer Aufmerksamkeit überschüttete er dagegen Chad, ihre Nemesis. Nicht einmal hinsehen musste er, um zu spüren, dass Melissa verständnisinnig und solidarisch nickte, wenn er eine schwierige Marcuse- oder Baudrillard-Passage aufdröselte. Ihre Kommilitonen ignorierte sie generell, außer wenn sie sich ihnen für ein hitziges Kontra oder eine kühle Korrektur jäh zuwandte; die Kommilitonen ihrerseits gähnten laut, sobald sie nur die Hand hob.

Eines warmen Freitagabends gegen Ende des Semesters kam Chip von seinem wöchentlichen Einkauf nach Hause und entdeckte, dass jemand seine Haustür verunziert hatte. Drei der vier Laternen in der Tilton Ledge Lane waren kaputt; offenbar wollte die College-Verwaltung erst dann in neue Glühbirnen investieren, wenn auch die vierte nicht mehr brannte. Im schwachen Licht konnte Chip erkennen, dass jemand Blumen und Blätter — Tulpen, Efeu — durch die Löcher seiner rostzerfressenen Fliegendrahttür gestopft hatte. «Was ist denn das hier?», sagte er. «Melissa, jetzt bist du fällig.»

Möglicherweise sagte er noch andere Dinge, bevor er merkte, dass auch seine Schwelle inzwischen mit zerpflückten Tulpen und Efeublättern bestreut, der Vandalismus also in vollem Gange und er mithin nicht allein war. Hinter der Stechpalme neben seiner Tür kamen zwei kichernde junge Menschen hervor. «Tut mir Leid, tut mir Leid!», sagte Melissa. «Sie haben wohl Selbstgespräche geführt!»

Chip hätte sich gern eingeredet, sie habe seine Worte nicht gehört, doch die Stechpalme war kaum einen Meter entfernt. Er stellte seine Einkäufe im Haus ab und knipste eine Außenlampe an. Neben Melissa stand Dreadlock-Chad.

«Hallo, Professor Lambert», sagte Chad ernst. Er trug Melissas Mister-Goodwrench-Overall und Melissa ein Free Mumia-T-Shirt, das offensichtlich Chad gehörte. Einen Arm hatte sie um Chads Hals geschlungen, ihre Hüfte eng an die seine gepresst. Sie war rot im Gesicht, verschwitzt und von irgendetwas beschwipst.

«Wir waren gerade dabei, Ihre Tür zu schmücken», sagte sie.

«Eigentlich, Melissa, sieht das Zeug doch eher ätzend aus», sagte Chad, als er ihr Werk im Licht begutachtete. Zerquetschte Tulpen hingen kreuz und quer vom Drahtgitter herab. In den haarigen Kletterfüßen der Efeuranken klebten Dreckklumpen. «Vielleicht 'n bisschen übertrieben, von ‹schmücken› zu reden.»

«Na ja, man kann hier ja auch überhaupt nichts sehen», sagte sie. «Was ist mit dem Licht?»

«Gibt keins», sagte Chip. «Hier ist das Ghetto in den Wäldern. Hier leben eure Lehrer.»

«Mann, sieht der Efeu trostlos aus.»

«Wessen Tulpen sind das?», fragte Chip.

«College-Tulpen», sagte Melissa.

«Mann, ich weiß nicht mal mehr, warum wir das gemacht haben.» Chad drehte sich zur Seite, sodass Melissa ihren Mund auf seine Nase drücken und daran saugen konnte, was ihn, obwohl er den Kopf wegzog, nicht zu stören schien. «War ja auch irgendwie eher deine Idee als meine, oder?»

«Wir finanzieren diese Tulpen schließlich mit unseren Studiengebühren», sagte Melissa und presste ihren Körper an Chads. Sie hatte Chip nicht ein einziges Mal angesehen, seit die Außenlampe brannte.

«Und dann haben Hänsel und Gretel plötzlich meine Haustür gefunden.»

«Wir machen das wieder weg», sagte Chad.

«Lasst es dran», sagte Chip. «Wir sehen uns am Dienstag.» Damit ging er hinein, zog die Tür hinter sich ins Schloss und legte irgendeine zornige Musik aus seinen College-Tagen auf.

Bei der letzten «Konsum oder Kritik»-Sitzung war es heiß. Die Sonne glühte an einem Himmel voller Pollen, all die Angiospermen im eben umgetauften Viacom-Arboretum blühten. Chip fand, dass die Luft etwas unangenehm Intimes hatte, wie eine warme Strömung im Schwimmbecken. Er hatte schon den Videorekorder eingestellt und die Jalousien heruntergelassen, als Melissa und Chad in den Raum geschlendert kamen und in der hintersten Ecke Platz nahmen. Chip ermahnte die Kursteilnehmer, aufrecht zu sitzen wie aktive Kritiker, anstatt sich wie passive Konsumenten auf den Stühlen zu lümmeln, und die Studenten rutschten gerade weit genug hoch, um erkennen zu lassen, dass sie seine Aufforderung gehört hatten, mehr nicht. Melissa, für gewöhnlich die einzige ganz und gar aufrechte Kritikerin, hing heute besonders nachlässig auf ihrem Stuhl. Sie hatte einen Arm über Chads Beine gelegt.

Um zu prüfen, ob seine Studenten den kritischen Blick, den er ihnen beizubringen versucht hatte, auch beherrschten, zeigte Chip ihnen das Video einer sechsteiligen Werbekampagne mit dem Titel «Komm schon, Mädchen!». Die Kampagne war das Werk einer Agentur namens Beat Psychology, die auch «Schreit vor Wut» für G — Electric, «Leg mich aufs Kreuz» für D — Jeans, «Totale Sch***-Anarchie!» für W — Network, «Radikaler Psychedelischer Untergrund» für D — .com und «Liebe & Arbeit» für M — Pharmaceuticals entworfen hatte. «Komm schon, Mädchen!» war erstmals letzten Herbst im Rahmen einer Krankenhausserie ausgestrahlt worden, jeweils eine Folge pro Woche zur besten Sendezeit. Die Form war schwarzweißes Cinema Verite, der Inhalt, den Analysen von Times und Wall Street Journal zufolge, «revolutionär».

Die Handlung war diese: Vier Frauen arbeiten gemeinsam in einem kleinen Büro, eine süße junge Afro-Amerikanerin, eine mittelalte technikfeindliche Blondine, eine robuste, clevere Schönheit namens Chelsea und eine strahlend gütige, grauhaarige Chefin. Sie essen gemeinsam und lästern gemeinsam, und nach und nach beginnen sie, auch gemeinsam zu kämpfen, als nämlich Chelsea am Ende der zweiten Folge die anderen mit der niederschmetternden Nachricht konfrontiert, dass sie seit fast einem Jahr einen Knoten in der Brust habe, bisher aber vor lauter Angst nicht zum Arzt gegangen sei. In der dritten Folge verblüffen die Chefin und die süße junge Afro-Amerikanerin die technikfeindliche Blondine, indem sie die Global-Desktop-Version 5.0 der Firma W — nutzen, um an die neuesten Informationen über Krebs heranzukommen und Chelsea Zugang nicht nur zu Beratungs- und Hilfsprogrammen, sondern auch zu der besten medizinischen Betreuung zu verschaffen, die es vor Ort gibt. Die Blondine, fasziniert, lernt nun zwar schnell die Technik lieben, gibt aber zu bedenken: «Das kann Chelsea sich nie und nimmer leisten.» Woraufhin die engelhafte Chefin verkündet: «Jeden Cent, den es kostet, zahle ich.» Ab der Mitte der fünften Folge — und dies war der revolutionäre Einfall der Kampagne — besteht jedoch kein Zweifel mehr, dass Chelsea ihren Brustkrebs nicht überleben wird. Herzzerreißende Szenen mit tapferen Witzeleien und innigen Umarmungen schließen sich an. Die letzte Folge spielt wieder im Büro, wo die Chefin einen Schnappschuss der inzwischen entschlafenen Chelsea einscannt, während die nunmehr fanatisch-technophile Blondine fachmännisch die Global-Desktop-Version 5.0. der Firma W — bedient und in raschen Schnitten Frauen jeden Alters und aller Rassen auf den Schirm zaubert, die lächelnd und mit feuchten Augen auf ihren eigenen Global-Desktops Chelseas Porträt betrachten. Und Geister-Chelsea bittet in einem digitalen Video-Clip: «Helfen Sie uns im Kampf um die Heilung.» Die Folge endet mit der in nüchternem Schriftbild gehaltenen Information, dass die Firma W — mehr als 10000000,00 Dollar gespendet habe, um die Amerikanische Krebsgesellschaft bei diesem Kampf zu unterstützen…