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Studienanfänger, die noch nicht über das nötige analytische Handwerkszeug verfügten, konnten den raffinierten Produktionsmechanismen einer Kampagne wie «Komm schon, Mädchen!» leicht auf den Leim gehen. Chip war gespannt, und ein wenig fürchtete er sich auch davor, gleich zu erfahren, welche Fortschritte seine Studenten gemacht hatten. Mit Ausnahme von Melissa, deren Arbeiten schlüssig und klar geschrieben waren, hatte keiner ihn überzeugen können, dass er zu mehr imstande war, als den gerade angesagten Jargon nachzuplappern. Jedes Jahr, so schien ihm, waren die neuen Erstsemester ein wenig theorieresistenter als ihre Vorgänger. Nun war das Ende des Semesters gekommen, und Chip fragte sich, ob außer Melissa irgendjemand wirklich begriffen hatte, wie der Massenkultur kritisch beizukommen war.

Das Wetter erleichterte ihm die Sache nicht gerade. Als er die Jalousien hochzog, fiel Strandlicht in den Seminarraum. All die nackten Arme und Beine, die der Jungen ebenso wie die der Mädchen, verströmten sommerliche Lust.

Hilton, eine zarte kleine Frau, einem Chihuahua nicht unähnlich, machte den Anfang: «Mutig» sei es und «echt interessant», dass Chelsea an ihrem Krebs gestorben sei, anstatt, wie man es in einem Werbestreifen vielleicht eher erwartet hätte, zu überleben.

Chip hoffte, jemand würde jetzt erwidern, dass es genau dieser kalkuliert «revolutionäre» Dreh der Handlung sei, der dem Spot so viel an öffentlicher Aufmerksamkeit beschert habe. Normalerweise konnte er darauf zählen, dass Melissa von ihrem Platz in der ersten Reihe aus so einen Beitrag lieferte. Aber heute saß sie neben Chad, und ihr Kopf lag auf dem Tisch. Normalerweise rief Chip jeden Studenten, der während des Unterrichts schlief, sofort auf. Aber heute scheute er sich, Melissas Namen auszusprechen. Er hatte Angst, dass seine Stimme zittern könnte.

Schließlich sagte er mit einem verkniffenen Lächeln: «Für den Fall, dass irgendjemand von Ihnen letzten Herbst auf einem anderen Stern gewesen ist, lassen Sie uns noch einmal durchgehen, was diese Werbung losgetreten hat. Sie erinnern sich, dass Nielsen-Media-Research der revolutionäre Schritt unternahm, die Einschaltquote der sechsten Folge zu ermitteln. Ein absolutes Novum bei einem Werbespot. Und nachdem Nielsen die Quote ermittelt hatte, war der Kampagne in den Novemberdurchläufen eine außerordentliche Aufmerksamkeit sicher. Sie erinnern sich des Weiteren, dass die Nielsen-Aktion im Anschluss an eine Woche stattfand, in der die Print- und Audio-Medien ausführlich über den revolutionärem Dreh der Handlung, namentlich Chelseas Tod, berichtet hatten und im Internet das Gerücht aufgekommen war, dass es Chelsea wirklich gegeben habe und sie wirklich gestorben sei. Was erstaunlicherweise mehrere hunderttausend Leute glaubten. Beat Psychology, Sie erinnern sich, hatte Chelseas Krankengeschichte und ihren Lebensweg allerdings frei erfunden und dann ins Netz gestellt. Meine Frage an Hilton wäre daher, was daran ‹mutig>› ist, wenn eine Firma für ihre eigene Werbekampagne einen bombensicheren Publicity-Coup organisiert?»

«Es war trotzdem ein Risiko», sagte Hilton. «Ich meine, so ein Tod zieht die Leute doch runter. Das hätte auch ein Eigentor werden können.»

Wieder wartete Chip darauf, dass jemand, egal wer, seinen Standpunkt vertreten würde. Keiner tat es. «Also wird aus einer gänzlich zynischen Strategie, nur weil ein finanzielles Risiko damit verbunden ist, ein mutiger künstlerischer Akt?»

Eine Flotte College-Rasenmäher kam den Rasen vor dem Seminarraum herunter und erstickte die Diskussion unter einer Lärmdecke. Die Sonne schien hell.

Tapfer marschierte Chip voran. War es denn realistisch, dass die Chefin eines kleinen Unternehmens in die eigene Tasche griff, um einer Angestellten ausgefallene Therapieformen zu ermöglichen?

Eine Studentin warf ein, der Chef, den sie in ihrem letzten Sommerjob gehabt habe, sei ebenfalls großzügig und total nett gewesen.

Ohne einen Laut von sich zu geben, wehrte Chad Melissas Versuch, ihn zu kitzeln, ab, während er mit der freien Hand einen Gegenangriff auf die nackte Haut ihrer Taille startete.

«Chad?», sagte Chip.

Erstaunlicherweise konnte Chad die Frage beantworten, ohne sie sich wiederholen lassen zu müssen. «Also, das ist ja jetzt nur eins von vielen Büros», sagte er. «Vielleicht hätte sich ein anderer Chef nicht so toll verhalten. Aber diese Chefin ist eben toll. Ich meine, keiner behauptet doch, dass hier ein ganz gewöhnliches Büro gezeigt wird, oder?»

Das schien der geeignete Moment für die Frage, ob die Kunst nicht dem Typischen verpflichtet sei; auch diese Diskussion eine Totgeburt.

«Das heißt also», sagte Chip, «dass wir die Kampagne, unter dem Strich zumindest, gutheißen. Wir finden, solche Werbespots sind gut für unsere Kultur und gut für unser Land. Ja?»

Schulterzucken und Nicken im sonnengeheizten Raum.

«Melissa, wir haben noch gar nichts von Ihnen gehört.»

Melissa hob den Kopf vom Tisch, entzog Chad ihre Aufmerksamkeit und sah Chip mit zusammengekniffenen Augen an. «Ja», sagte sie.

«Ja was?»

«Ja, diese Werbespots sind gut für unsere Kultur und gut für unser Land.»

Chip holte tief Luft: Das tat weh. «Schön, großartig», sagte er. «Vielen Dank, dass Sie Ihre Meinung kundgetan haben.»

«Als ob Sie sich für meine Meinung interessieren würden», sagte Melissa.

«Bitte?»

«Als ob Sie sich für irgendeine unserer Meinungen interessieren würden, es sei denn, sie deckt sich mit der Ihren.»

«Es geht überhaupt nicht um Meinungen», sagte Chip. «Es geht darum, Methoden der kritischen Analyse auf Text-Artefakte anzuwenden. Um Ihnen das beizubringen, bin ich hier.»

«Nein, das glaube ich nicht», konterte Melissa. «Ich glaube, Sie sind hier, um uns beizubringen, dasselbe zu verabscheuen, was Sie verabscheuen. Ich meine, Sie haben diese Werbespots doch gefressen, oder etwa nicht? Das höre ich aus jedem Wort heraus, das Sie sagen. Sie haben sie absolut gefressen.»

Jetzt lauschten die anderen Studenten gebannt. Dass Melissa mit Chad zusammen war, hatte vermutlich dessen Aktien stärker fallen als ihre eigenen steigen lassen, aber sie attackierte Chip so wütend, als wäre sie ihm vollkommen ebenbürtig, und die Klasse weidete sich daran.

«Stimmt, ich verabscheue diese Spots», gab Chip zu, «aber das ist nicht — »

«Doch», sagte Melissa.

«Und warum?», rief Chad.

«Ja, sagen Sie uns, warum Sie sie gefressen haben», kreischte die kleine Hilton.

Chip schaute auf die Wanduhr. In sechs Minuten war das Semester zu Ende. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, als hoffe er, irgendwo einen Verbündeten zu finden. Doch die Studenten hatten ihn in die Enge getrieben, und sie wussten es.

«Die Firma W — », sagte er, «muss sich augenblicklich in drei verschiedenen Prozessen wegen Verstoßes gegen die Antitrustgesetze verantworten. Im letzten Jahr überstiegen ihre Einkünfte das Bruttoinlandsprodukt von Italien. Und um nun auch der letzten Bevölkerungsgruppe, die sie noch nicht beherrscht, Dollars aus den Rippen zu leiern, veranstaltet sie eine Werbekampagne, die zweierlei ausbeutet: die Angst der Frau vor Brustkrebs und ihr Mitgefühl mit den Opfern dieser Krankheit. Ja, Melissa?»