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«Lebt er?»

«Eigentlich müsste er tot sein», sagte Gary. «Aber er lebt.»

In Notfällen lief Gary zur Bestform auf. Die Eigenschaften, die sie noch am Tag zuvor zur Weißglut gebracht hatten, waren ihr jetzt ein Trost. Sie wollte, dass er alles wusste. Sie wollte, dass er, ob seiner Gelassenheit, selbstzufrieden klang.

«Offenbar haben sie ihn an die zwei Kilometer durch fünfzehn Grad kaltes Wasser geschleppt, bevor das Schiff anhalten konnte», sagte Gary. «Sie haben einen Hubschrauber gerufen, der ihn nach New Brunswick bringen soll. Aber er hat sich nicht das Genick gebrochen. Sein Herz schlägt noch. Und er kann sprechen. Ein zäher alter Bursche, was. Gut möglich, dass er sich wieder völlig erholt.» «Wie geht es Mom?»

«Es setzt ihr zu, dass die Kreuzfahrt nicht weitergehen kann, bis der Hubschrauber kommt. Dass sie anderen Leuten Umstände machen.»

Denise lachte erleichtert. «Arme Mom. Sie hatte sich so auf die Kreuzfahrt gefreut.»

«Tja, ich fürchte, ihre Kreuzfahrtzeiten mit Dad sind vorbei.»

Es läutete wieder an der Tür. Gleich darauf hämmerte jemand dagegen, hämmerte und trat.

«Gary, warte mal eine Sekunde.»

«Was ist da los?»

«Ich ruf dich gleich zurück.»

Es läutete so lange und laut, dass sich der Klingelton veränderte; er klang jetzt flach, ein bisschen heiser fast.

Sie öffnete einem zitternden Mund und hasserfüllten Augen die Tür.

«Geh mir aus dem Weg», sagte Robin, «ich will keinen Zentimeter von dir berühren.»

«Ich habe gestern Nacht einen ganz großen Fehler begangen.»

«Geh mir aus dem Weg!»

Denise trat zur Seite, und Robin stürmte die Treppe hinauf. Denise setzte sich auf den einzigen Stuhl in ihrem Wohnzimmer, ihrer Büßerkammer, und hörte zu, wie oben geschrien wurde.

Plötzlich wurde ihr bewusst, wie selten sich ihre Eltern, jenes andere verheiratete Paar in ihrem Leben, jene anderen beiden nicht zueinander passenden Menschen, in ihrer Kindheit angeschrien hatten. Sie hatten stillgehalten und zugelassen, dass im Kopf ihrer Tochter ein Stellvertreterkrieg ausbrach.

Wann immer sie mit Brian zusammen wäre, würde sie sich nach Robins Körper und ihrer Aufrichtigkeit und ihren guten Werken sehnen und sich von Brians kühler Blasiertheit abgestoßen fühlen, und wann immer sie mit Robin zusammen wäre, würde sie sich nach Brians gutem Geschmack und der Übereinstimmung zwischen ihnen sehnen und wünschen, Robin würde endlich einmal bemerken, wie sensationell ihr schwarzer Kaschmir stand.

Ihr habt's leicht, dachte sie. Ihr seid zwei.

Die Schreierei hörte auf. Robin kam die Treppe heruntergerannt und lief, ohne abzubremsen, aus der Haustür.

Brian folgte ihr ein paar Minuten später. Mit Robins Missbilligung hatte Denise gerechnet, damit konnte sie umgehen, von Brian hingegen erhoffte sie sich irgendein verständnisvolles Wort.

«Du bist gefeuert», sagte er.

VON: Denise3@cheapnet.com

AN: exprof@gaddisfly.co

THEMA: Vielleicht sollten wir uns nächstes Mal etwas mehr Mühe geben

Schön, dass wir uns Samstag gesehen haben. War wirklich nett von dir, gleich zurückzukommen und mir beizustehen.

In der Zwischenzeit ist Dad vom Schiff gefallen und mit gebrochenem Arm, ausgekugelter Schulter, abgelöster Netzhaut, vorübergehendem Gedächtnisverlust und wahrscheinlich einem leichten Schlaganfall aus eisigem Wasser gezogen und, zusammen mit Mom, per Hubschrauber nach New Brunswick geflogen worden, mich hat man gefeuert (einen so guten Job kriege ich bestimmt nie wieder), und Gary und ich haben von einer brandneuen medizinischen Technologie erfahren, die du bestimmt genauso grauenvoll, dystopisch und bösartig finden würdest wie ich, nur dass sie gut gegen Parkinson ist und Dad vielleicht helfen könnte.

Davon abgesehen, gibt's nicht viel zu berichten.

Ich hoffe, dir geht's gut, wo immer du Scheißkerl stecken magst. Julia sagt, in Litauen, und erwartet auch noch, dass ich das glaube.

VON: exprof@gaddisfly.com

AN: Denise3@cheapnet.co

THEMA: Re: Vielleicht sollten wir uns nächstes Mal etwas mehr Mühe geben

Jobgelegenheit in Litauen. Julias Ehemann Gitanas bezahlt mich dafür, dass ich eine profitable Homepage einrichte. Macht ziemlichen Spaß und ist nicht unlukrativ.

Alle deine Highschool-Lieblingsbands kommen hier im Radio. Smiths, New Order, Billy Idol. Die Vergangenheit lässt grüßen. Ich habe gesehen, wie ein alter Mann in der Nähe des Flughafens mitten auf der Straße ein Pferd erschossen hat. Da war ich gerade mal fünfzehn Minuten auf baltischem Boden. Willkommen in Litauen!

Heute Morgen mit Mom gesprochen, die ganze Geschichte gehört, mich entschuldigt — mach dir deswegen also keine Sorgen.

Das mit deinem Job tut mir Leid. Um ehrlich zu sein: Ich bin sprachlos. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass dich jemand feuert.

Wo arbeitest du jetzt?

VON: Denise3@cheapnet.com

AN: exprof@gaddisfly.com

THEMA: Feiertagspflichten

(Vilnius!)

Mom muss dich falsch verstanden haben. Bitte klär mich auf.

Da du gefragt hast: Im Augenblick arbeite ich nirgends. Helfe gelegentlich im Mare Scuro aus, schlafe ansonsten bis zwei. Wenn das so weitergeht, muss ich vielleicht was Therapeutisches anfangen, in der Art, wie du es gefressen hast. Muss irgendwie die Lust am Shoppen und an anderem kostspieligen Konsumverhalten wiederfinden.

Das Letzte, was ich von Gitanas Miesepetrius gehört habe, war, dass er Julia zwei Veilchen verpasste. Aber egal.

VON: exprof@gaddisfly.com

AN: Denise3@cheapnet.com

THEMA: Re: Feiertagspflichten

Ich fahre nach St. Jude, sobald ich ein bisschen Geld verdient habe. Vielleicht schon zu Dads Geburtstag. Aber Weihnachten ist die Hölle, das weißt du doch. Eine schlimmere Zeit gibt es nicht. Du kannst Mom sagen, ich komme irgendwann bald nach Neujahr.

Mom behauptet, Caroline und die Jungen würden Weihnachten in St. Jude verbringen. Ist das wirklich wahr?

Nimm bloß nicht meinetwegen keine Psychopharmaka.

VON: Denise3@cheapnet.com

AN: exprof@gaddisfly.co

THEMA: «Das Einzige, was verletzt wurde, war meine Würde»

War einen Versuch wert, aber nein, tut mir Leid, ich bestehe darauf, dass du an Weihnachten dabei bist.

Ich habe mit Axon gesprochen, und im Moment sieht es so aus, dass Dad gleich nach Neujahr sechs Monate lang Korrektal bekommt und so lange mit Mom bei mir wohnt. (Passenderweise liegt mein Leben gerade in Trümmern, ich kann das also leicht einrichten.) An diesem Plan ändert sich nur dann etwas, wenn Axons Mediziner meinen, dass Dads Demenz nicht von seinen Medikamenten herrührt. Ich gebe zu, er hat in New York einen ziemlich wackligen Eindruck auf mich gemacht, aber am Telefon klingt er ganz gut. «Das Einzige, was bei dem Sturz verletzt wurde, war meine Würde», usw. Den Gips haben sie ihm eine Woche früher als geplant vom Arm abgenommen.

Wie auch immer, geh davon aus, dass er an seinem Geburtstag bei mir in Philly sein wird, und für den Rest des Winters und den Frühling auch, also kannst du zu keiner anderen Zeit als Weihnachten nach St. Jude kommen. Hör auf,

mit mir zu diskutieren, und komm einfach. Ich warte gespannt (aber zuversichtlich) auf deine Zusage. PS: Caroline, Aaron und Caleb bleiben in Philly. Gary kommt mit Jonah und fliegt am 25. gegen Mittag zurück. PPS: Keine Sorge, ich sage NEIN zu Drogen.

VON: exprof@gaddisfly.com