AN: Denise3@cheapnet.co
THEMA: Re: «Das Einzige, was verletzt wurde, war meine Würde»
Gestern Abend habe ich mit angesehen, wie einem Mann sechsmal in den Bauch geschossen wurde. Ein Auftragsmord in einem Club, der Musmiryte heißt. Es hatte nichts mit uns zu tun, aber dabei zu sein war trotzdem nicht eben witzig.
Mir will nicht einleuchten, warum ich an irgendeinem bestimmten Tag nach St. Jude kommen muss. Wären Mom und Dad meine Kinder, die ich aus dem Nichts, und ohne sie um Erlaubnis zu fragen, gezeugt hätte, dann würde ich ja noch einsehen, dass ich für sie verantwortlich bin. Eltern haben nun mal ein beispiellos fest eingebautes Darwinsches Interesse am Wohlergehen ihrer Kinder. Aber Kinder, will mir scheinen, haben ihren Eltern gegenüber eine derartige Verpflichtung nicht.
Im Grunde habe ich diesen Leuten sehr wenig zu sagen.
Außerdem bezweifle ich, dass sie das, was ich zu sagen habe, hören wollen.
Warum kann ich mich nicht mit ihnen treffen, wenn sie in Philadelphia sind? Das klingt auf alle Fälle netter. Auf die Weise können wir alle neun, anstatt, wie jetzt, nur zu sechst zusammentreffen.
VON: Denise3@cheapnet.com
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THEMA: Eine Standpauke von deiner stinksauren Schwester
Mein Gott, klingst du selbstmitleidig.
Und ich sage, komm MIR zuliebe. MIR zuliebe. Und auch dir SELBST zuliebe, denn mir ist schon klar, dass man sich unheimlich toll und erwachsen fühlt, wenn man beobachtet, wie jemand ein paar Schüsse in den Bauch kriegt, aber du hast nur zwei Eltern, und wenn du die Zeit mit ihnen verpasst, gibt dir keiner nochmal eine Chance.
Ich geb's ja zu: Ich bin ein Wrack.
Ich erzähle dir jetzt — weil ich es irgendeinem mal erzählen muss — und obwohl du mir nie erzählt hast, warum man DICH gefeuert hat — , dass ich gefeuert wurde, weil ich mit der Frau meines Chefs geschlafen habe. Was glaubst du also, habe *ich* «diesen Leuten» zu sagen? Wie, glaubst du, sind derzeit meine Sonntagspläuschchen mit Mom?
Du schuldest mir 20500,- Dollar. Ganz hübsche Summe, was?
Kauf dir das verdammte Ticket. Das Geld kriegst du von mir wieder.
Ich hänge an dir, und ich vermisse dich. Frag mich nicht, wieso.
VON: Denise3@cheapnet.com
AN: exprof@gaddisfly.com
THEMA: Reue
Tut mir Leid, dass ich dir eine Standpauke gehalten habe. Der letzte Satz war der einzige, den ich ernst meinte. E-Mails schreiben liegt mir nicht. Bitte antworte mir. Bitte komm an Weihnachten.
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THEMA: Sorge
Bitte, bitte, bitte mach das nicht; mir erst von Leuten erzählen, die erschossen werden, und dann nichts mehr von dir hören lassen.
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THEMA: Nur noch sechs Einkaufstage bis Weihnachten!
Chip? Bist du da? Bitte schreib mir oder ruf mich an.
Globale Erwärmung erhöht den Wert der Litauen AG
VILNIUS, 30. OKTOBER. In Anbetracht der Tatsache, dass der Meeresspiegel weltweit an die drei Zentimeter pro Jahr steigt und täglich Millionen Kubikmeter Meeresstrand abgetragen werden, hat der Europäische Rat für Bodenschätze diese Woche davor gewarnt, dass Europa noch vor Ablauf dieses Jahrzehnts mit einer «katastrophalen» Sand- und Kiesknappheit konfrontiert sein könnte.
«Zu allen Zeiten haben die Menschen Sand und Kies für unerschöpfliche Naturreichtümer gehalten», sagt der Vorsitzende des ERB, Jacques Dormand. «Leider werden viele mitteleuropäische Länder, darunter Deutschland, die sich bisher allzu sehr auf fossile, Treibhausgas erzeugende Brennstoffe verlassen haben, über kurz oder lang in die Abhängigkeit von Sand- und Kies-Kartellstaaten, insbesondere dem sandreichen Litauen, geraten, wenn sie weiterhin Straßen und Häuser bauen möchten.» Gitanas R. Misevicius, Gründer und Geschäftsführer von Litauens Parteigesellschaft Freier Markt, vergleicht die drohende europäische Sand- und Kieskrise mit der Ölkrise des Jahres 1973. «Damals», sagt Misevicius, «waren es winzige erdölproduzierende Länder wie Bahrain und Brunei, die den Großmächten die Zähne zeigten. Morgen wird es Litauen sein.»
Dormand beschreibt die prowestliche, unternehmerfreundliche Parteigesellschaft Freier Markt als «die derzeit einzige politische Kraft in Litauen, die bereit ist, fair und verantwortungsvoll mit westlichen Kapitalmärkten umzugehen.»
«Unser Pech ist», sagt Dormand, «dass sich der Großteil der Sand- und Kies-Reserven Europas in den Händen baltischer Nationalisten befindet, neben denen sich Muammar Gaddafi wie Charles de Gaulle ausnimmt. Ich übertreibe kaum, wenn ich sage, dass die wirtschaftliche Stabilität der EU künftig von einer Handvoll mutiger osteuropäischer Kapitalisten wie Herrn Misevicius abhängt…»
Das Schöne am Internet war, dass Chip ganzleinene Lügengeschichten hineinstellen konnte, ohne sich auch nur der Mühe zu unterziehen, seine Rechtschreibung zu überprüfen. Inwieweit das Web einem zuarbeitete, hatte zu achtundneunzig Prozent damit zu tun, wie professionell und zeitgemäß die eigene Homepage gestaltet war. Chip persönlich kannte sich mit dem Internet zwar nicht besonders gut aus, aber er war ein Amerikaner unter vierzig, und Amerikaner unter vierzig waren allesamt Experten darin zu beurteilen, was professionell und zeitgemäß aussah und was nicht. Er und Gitanas gingen in eine Kneipe, die Prie Universiteto hieß, engagierten für dreißig Dollar am Tag plus Millionen wertloser Aktien-Optionen fünf junge Litauer, die Phish- und R.E.M.-T-Shirts trugen, und einen Monat lang setzte Chip diesen slangschleudernden Webheads erbarmungslos zu. Er zwang sie, amerikanische Seiten wie nbci.com und Oracle unter die Lupe zu nehmen. Er sagte ihnen, so müssten sie es machen, so müsse es aussehen.
Lithuania.com wurde offiziell am 5. November ins Netz gestellt. Untermalt von sechzehn heiteren Petruschka-Takten aus dem «Tanz der Kutscher und Stallknechte», entrollte sich, in hoher Auflösung, ein Banner — DEMOKRATIE WIRFT HÜBSCHE DIVIDENDEN AB. Unter dem Banner fanden sich, nebeneinander und auf tiefblauem Hintergrund, eine schwarz-weiße Vorher — Aufnahme geschossnarbiger Häuserfassaden und zersplitterter Linden auf dem Gedimino-Prospektas («Sozialistisches Vilnius») und, in Farbe, eine prächtige Nachher-Fotografie («Marktwirtschaftliches Vilnius») der neu entstandenen, in honigfarbenes Licht getauchten Hafenanlage mit Boutiquen und Bistros. (Die Anlage befand sich in Wirklichkeit in Dänemark.) Eine Woche lang hatten Chip und Gitanas jeden Abend bis spät in die Nacht Bier getrunken und weitere Seiten eingerichtet, die etwaigen Investoren die diversen Eponymen- und Verewigungsprivilegien aus Gitanas erstem spöttischem Aufruf versprachen, sowie, abhängig von der Höhe der monetären Einlage,
Nutzung ministerieller Strandvillen in Palanga auf Timeshare-Basis!
anteilsbezogene Bergbau- und Forstanrechte in allen Nationalparks!
Anspruch auf die Dienste ausgewählter Verwaltungsbeamter und Richter vor Ort!
Rund-um-die-Uhr-Parkerlaubnis für die Altstadt von Vilnius!
fünfzig Prozent Rabatt auf die Miete ausgewählter litauischer Nationalgardisten und militärischer Ausrüstung (vorherige Anmeldung erforderlich), außer in Kriegszeiten!
unkomplizierte Adoption weiblicher litauischer Säuglinge!
unbürokratische Befreiung von dem Verbot, bei Rot links abzubiegen!
Ihr Konterfei auf Sondermarken, Sammlermünzen, Mikrobrauerei-Bieretiketten, litauischen Basrelief-Keksen mit Schokoladenglasur, Visitenkarten mit «Helden der Zeit»-Motiv, bedrucktem Seidenpapier für Weihnachtsclementinen etc.!