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Wie absolut typisch war es da für sein Glück, dass, noch bevor er auch nur zwei gute Monate in Vilnius verbringen konnte, sowohl sein Vater als auch Litauen in die Knie gingen.

Denise hatte Chip in ihren E-Mails mit immer neuen Meldungen über Alfreds Gesundheitszustand gepiesackt und darauf bestanden, dass er Weihnachten nach St. Jude komme, doch die Aussicht, im Dezember nach Hause zu fahren, barg wenig Reiz. Er fürchtete, dass ihn irgendetwas Albernes an der Rückkehr hindern würde, wenn er die Villa auch nur für eine Woche verlassen müsste. Ein Bann wäre gebrochen, ein Zauber dahin. Doch dann schickte ihm Denise, der gleichmütigste Mensch, den er kannte, eine E-Mail, in der sie geradezu verzweifelt klang. Chip überflog die Nachricht, bevor ihm klar wurde, dass er sie lieber nicht hätte lesen sollen, weil darin die Summe genannt war, die er Denise schuldete. Der Kummer, dessen Wesen er vergessen zu haben glaubte, die Schwierigkeiten, die aus der Ferne klein gewirkt hatten, füllten seinen Kopf aufs Neue aus.

Er löschte die E-Mail und bereute es sofort. Er hatte eine traumartige, halb deutliche Erinnerung an den Nebensatz weil ich mit der Frau meines Chefs geschlafen habe. Aber das kam ihm, als Äußerung von Denise, dermaßen unwahrscheinlich vor und sein Auge war so schnell darüber hinweggehuscht, dass er der Erinnerung nicht traute. Wenn seine Schwester auf dem Weg war, sich als Lesbierin zu outen (was, wenn er es recht bedachte, manche Aspekte ihres Leben erklären würde, über die er sich immer gewundert hatte), dann konnte sie die Unterstützung ihres foucaultschen älteren Bruders jetzt sicher gut gebrauchen; Chip aber war noch nicht bereit, nach Hause zu fahren, und deshalb nahm er an, dass seine Erinnerung ihn getäuscht und sich der Nebensatz auf etwas anderes bezogen hatte.

Während er drei Zigaretten hintereinander rauchte, wandelten sich seine Ängste zu Rechtfertigungen und Gegenvorwürfen und einer noch stärkeren Entschlossenheit, so lange in Litauen zu bleiben, bis er in der Lage wäre, seiner Schwester die $ 20.500,- zurückzuzahlen. Wenn Alfred tatsächlich bis Juli bei Denise wohnen sollte, konnte Chip noch weitere sechs Monate in Litauen bleiben und trotzdem sein Versprechen halten, an einem Familientreffen in Philadelphia teilzunehmen.

Leider holperte Litauen in diesem Moment schon den steinigen Abhang zur Anarchie hinunter.

Den ganzen Oktober und November gab sich Vilnius, trotz der weltweiten Finanzkrise, noch den Anstrich der Normalität. Bauern brachten weiterhin Geflügel und Vieh auf den Markt, und mit den Litas, die sie dafür bekamen, kauften sie russisches Benzin, litauisches Bier und litauischen Wodka, stonewashed Jeans, Spice-Girls-Sweatshirts und Raubkopien von Akte-X–Videos aus Ländern, die wirtschaftlich noch angeschlagener waren als Litauen. Die Fernfahrer, die das Benzin lieferten, und die Arbeiter, die den Wodka brannten, und die alten, kopftuchtragenden Frauen, die auf ihren Holzkarren die Spice-Girls-Sweatshirts feilboten, sie alle kauften den Bauern das Rind- und Hühnerfleisch ab. Das Land produzierte, der Litas rollte, und zumindest in Vilnius hatten die Kneipen und Clubs bis spät in der Nacht geöffnet.

Doch Wirtschaft war nicht bloß eine nationale Angelegenheit. Man konnte dem russischen Ölexporteur, der das Land mit Benzin versorgte, zwar Litas in die Hand drücken, aber es war sein gutes Recht zu fragen, für welche litauischen Waren oder Dienstleistungen er seine Litas denn bitte schön ausgeben solle. Zum offiziellen Kurs Litas zu kaufen, nämlich vier für einen Dollar, war kein Problem. Für vier Litas einen Dollar zu kaufen dagegen schon! Waren wurden, dem bekannten Paradoxon einer Flaute gemäß, knapp, weil es keine Käufer gab. Je schwerer es war, Alufolie oder Hackfleisch oder Motoröl aufzutreiben, um so reizvoller wurde es, Lastwagen, die diese Güter geladen hatten, zu überfallen oder sich rücksichtslos in den Verteilungskampf hineinzudrängen. Indessen bezogen Angestellte des öffentlichen Dienstes (in erster Linie die Polizei) weiterhin feste Gehälter in unerheblich gewordenen Litas. Die Untergrundwirtschaft lernte bald, den Wert eines Revierhauptmanns genauso unfehlbar zu bestimmen wie den einer Kiste Glühbirnen.

Chip war überrascht, als er feststellte, wie sehr sich der schwarze Markt Litauens und der freie Markt Amerikas ähnelten. In beiden Ländern konzentrierte sich der Wohlstand in den Händen weniger; jede belangvolle Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Sektor war verwischt; Handelskapitäne lebten in ständiger Anspannung und weiteten ihre Imperien deshalb skrupellos aus; einfache Bürger lebten in ständiger Angst, gefeuert zu werden, und in ständiger Ungewissheit darüber, welches mächtige private Interesse irgendeine ehemals öffentliche Institution gerade regierte; und die Wirtschaft wurde im Wesentlichen von der unersättlichen Nachfrage der Elite nach Luxusgütern angeheizt. (In Vilnius, im November dieses grauen Herbstes, sorgten fünf kriminelle Oligarchen dafür, dass Tausende von Tischlern, Maurern, Handwerkern, Köchen, Prostituierten, Barkeepern, Automechanikern und Leibwächtern eingestellt wurden.) Der Hauptunterschied zwischen Amerika und Litauen lag, soweit Chip das beurteilen konnte, darin, dass in Amerika die wenigen Wohlhabenden die vielen Nichtwohlhabenden mittels geisteinlullender und seelentötender Zerstreuungen und Technikkinkerlitzchen und Pharmazeutika unterdrückten, während in Litauen die wenigen Mächtigen die vielen Ohnmächtigen unterdrückten, indem sie ihnen Gewalt androhten.

In gewisser Weise wärmte es sein foucaultsches Herz, dass er in einem Land lebte, in dem der Besitz von Privateigentum und die Kontrolle des öffentlichen Diskurses so offenkundig davon abhingen, wer die Knarren hatte.

Der Litauer mit den meisten Knarren war ein gebürtiger Russe namens Victor Litschenkew, der die Liquidität seines Heroin- und Ecstasy-beinahe-Monopols in eine absolute Herrschaft über die Bank von Litauen umgemünzt hatte, nachdem deren vorheriger Eigentümer, FrendLeeTrust of Atlanta, einer katastrophalen Fehleinschätzung unterlegen war, was das Verlangen der Konsumenten nach seinen Peanuts-Master-Cards anging.

Victor Litschenkews Barreserven versetzten ihn in die Lage, einen fünfhundert Mann starken «Polizeitrupp» zu bewaffnen und im Oktober den Kernreaktor vom Typ Tschernobyl in Ignalina, 120 Kilometer nordöstlich von Vilnius, der drei Viertel des Landes mit Elektrizität versorgte, in einem dreisten Manöver umstellen zu lassen. Die Belagerung brachte Litschenkew, der den landesweit größten Versorgungsbetrieb kaufen wollte, in eine ausgezeichnete Verhandlungsposition gegenüber dem Noch-Eigentümer, einem rivalisierenden Oligarchen, der den Reaktor in der Zeit der großen Privatisierung für einen Pappenstiel erstanden hatte. Von einem Tag auf den anderen konnte Litschenkew jeden einzelnen Litas, der über jeden einzelnen Stromzähler im Land hereinkam, für sich verbuchen; doch aus Angst, dass seine russische Herkunft nationalistische Feindseligkeiten heraufbeschwören könnte, achtete er darauf, seine neue Machtstellung nicht zu missbrauchen. Als Geste des guten Willens senkte er die Strompreise um just jene fünfzehn Prozent, die sein Vorgänger draufgeschlagen hatte. Auf der Welle seiner Popularität schwimmend, gründete er eine neue politische Partei (die «Volksstrom-Partei») und stellte eine Kandidatenliste für die Mitte Dezember geplanten Parlamentswahlen auf.