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Und immer noch produzierte das Land, immer noch rollte der Litas. Im Lietuva- und im Vingis-Kino lief ein Messerstecher-Streifen mit dem Titel Moody Fruit an. In der Fernsehsendung Friends kamen litauische Witze über Jennifer Anistons Lippen. Angestellte der Stadtreinigung leerten betonverkleidete Müllbehälter auf dem Vorplatz von St. Katharinen aus. Jeder Tag allerdings war dunkler und kürzer als der davor.

Auf der Weltbühne hatte Litauen seit dem Tod von Großfürst Witold im Jahre 1430 eine immer unbedeutendere Rolle gespielt. Sechshundertjahrelang war das Land zwischen Polen, Preußen und Russland herumgereicht worden wie ein häufig recyceltes Hochzeitsgeschenk (der lederbemantelte Eiskübel; das Salatbesteck). Zwar hatten Landessprache und Erinnerungen an bessere Zeiten überlebt, doch entscheidend für Litauen war und blieb, dass es nicht groß war. Im zwanzigsten Jahrhundert hatten die Gestapo und die SS 200.000 litauische Juden liquidieren und die Sowjets weitere 250 000 Litauer nach Sibirien deportieren können, ohne übermäßige internationale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Gitanas Misevicius stammte aus einer Familie von Priestern und Soldaten und Beamten aus dem Grenzgebiet zu Weißrussland. Sein Großvater väterlicherseits, der in seiner Heimatstadt als Richter gearbeitet hatte, war 1940 bei einer Frage-und-Antwort-Stunde der neuen kommunistischen Regierung durchgefallen und, zusammen mit seiner Frau, in den Gulag geschickt worden; seitdem hatte man nie wieder von ihm gehört. Gitanas' Vater betrieb eine Kneipe in Vidiskes und hatte die Widerstandsbewegung der Partisanen (die so genannten Waldbrüder) mit Rat und Tat unterstützt, bis die Feindseligkeiten 1953 endeten.

Ein Jahr nach Gitanas' Geburt wurden Vidiskes und acht weitere umliegende Ortschaften von der Marionettenregierung evakuiert, um den Weg für das erste von zwei Atomkraftwerken frei zu machen. Den fünfzehntausend Menschen, die auf diese Weise («aus Sicherheitsgründen») zwangsumgesiedelt wurden, bot man Unterkünfte in einer brandneuen, hochmodernen Kleinstadt an, Kruschtschewai, die hastig im Seengebiet westlich von Ignalina erbaut worden war.

«Bisschen trostlos, alles aus Schlackenstein, nirgends Bäume», erzählte Gitanas Chip. «Die neue Kneipe meines Vaters hatte einen Schlackensteintresen, Sitzecken aus Schlackenstein, Schlackensteinregale. Die sozialistische Planwirtschaft in Weißrussland hatte zu viel Schlackenstein produziert und gab ihn jetzt zu Schleuderpreisen an uns ab. So hieß es jedenfalls. Na schön, wir ziehen da also alle hin. Wir hatten unsere Schlackensteinbetten und unseren Spielplatz mit Schlackensteingeräten und unsere Parkbänke aus Schlackenstein. Die Jahre vergehen, ich bin zehn, und plötzlich haben alle Mütter oder Väter Lungenkrebs. Ich meine, alle. Tja, und dann hat auch mein Vater einen Lungentumor, und schließlich kommen die Verantwortlichen und schauen sich Kruschtschewai an, und siehe da: Wir haben ein Radonproblem. Ein ernsthaftes Radonproblem. Ein richtig beschissenes Radonproblem, um ehrlich zu sein. Es stellt sich nämlich raus, dass diese Schlackensteine leicht radioaktiv sind! Und in jedem geschlossenen Raum in Kruschtschewai sammelt sich Radon. Vor allem in stickigen Räumen, in denen der Besitzer sich den ganzen Tag aufhält und Zigaretten raucht. Wie mein Vater in seiner Kneipe. Tja, Weißrussland, unsere sozialistische Schwesterrepublik (die, nebenbei bemerkt, früher zu Litauen gehörte), Weißrussland sagt, tut uns wirklich Leid. Da muss irgendwie Pechblende in den Schlackenstein geraten sein, sagt Weißrussland. Großes Versehen. Tut uns Leid, tut uns Leid, tut uns Leid. Also ziehen wir alle aus Kruschtschewai fort, und mein Vater stirbt, ganz grauenvoll, kurz nach Mitternacht, zehn Minuten nachdem sein Hochzeitstag vorbei ist, weil er nicht möchte, dass meine Mutter sich an ihrem Hochzeitstag jedes

Mal an seinen Tod erinnert, und dann gehen dreißig Jahre ins Land, und Gorbatschow tritt ab, und endlich können wir Einsicht in die alten Archive nehmen, und was soll ich sagen? Es gab gar keine Schlackensteinschwemme. Es gab gar kein heilloses Durcheinander im Fünfjahresplan. Schwach radioaktiven Atommüll als Baumaterial wieder zu verwerten war vielmehr eine wohl überlegte Taktik. Weil man davon ausging, dass der Zement im Schlackenstein die Radioisotopen unschädlich macht! Aber die Weißrussen hatten Geigerzähler, und das war das Ende des schönen Traums von der Unschädlichkeit, und so landeten tausend Zugladungen Schlackenstein bei uns, die wir keinen Grund hatten anzunehmen, dass irgendwas faul war.»

«Autsch», sagte Chip.

«Das ist jenseits von autsch», sagte Gitanas. «Es hat meinen Vater umgebracht, als ich elf war. Und den Vater meines besten Freundes. Und über die Jahre hinweg Hunderte anderer. Und alles passte ins Konzept. Immer war da ein Feind mit einer großen roten Zielscheibe auf dem Rücken. Der böse Papa UdSSR, den wir alle hassen konnten. Bis die neunziger Jahre kamen.»

Das Parteiprogramm der VIPPPAKJRIINPB17, die Gitanas nach der Unabhängigkeitserklärung gründen half, ruhte auf einem breiten, tragenden Fundament: Die Sowjets sollten für die Vergewaltigung Litauens büßen. Eine Zeit lang war es möglich, das Land nur auf der Basis von Hass zu regieren. Doch schon bald tauchten andere Parteien auf, die den Revanchismus ebenfalls berücksichtigten, zugleich aber darüber hinausweisen wollten. Als die VIPPPAKJRIINPB17 Ende der neunziger Jahre ihren letzten Sitz im Seimas verlor, war alles, was von der Partei überdauert hatte, ihre halb renovierte Villa.

Gitanas versuchte sich einen Reim auf das Weltgeschehen zu machen, doch vergebens. Als die Rote Armee ihn unrechtmäßig gefangen gehalten und ihm Fragen gestellt hatte, die zu beantworten er sich weigerte, und nach und nach seine linke Körperhälfte mit Verbrennungen dritten Grades überzogen worden war, da hatte er die Welt noch verstanden. Seit der Unabhängigkeit aber ergab die Politik in seinen Augen keinen Sinn mehr. Selbst ein so simples und lebenswichtiges Thema wie die sowjetischen Wiedergutmachungsleistungen an Litauen war verhext, weil die Litauer sich während des Zweiten Weltkriegs an der Judenverfolgung beteiligt hatten und weil viele, die jetzt im Kreml saßen, früher antisowjetische Patrioten gewesen waren, die ein beinahe ebenso großes Recht auf Wiedergutmachung hatten wie die Litauer.

«Was mache ich jetzt», fragte Gitanas Chip, «wo der Aggressor keine Armee mehr ist, sondern ein System und eine Kultur? Das Beste, was ich mir heute für mein Land erhoffen kann, ist, dass es eines Tages wie ein zweitklassiges westliches Land aussieht. Wie ein Allerweltsland also.»

«Wie Dänemark mit seinen reizvollen Hafenbistros und Hafenboutiquen», sagte Chip.

«Solange wir auf die Sowjets zeigen und sagen konnten: Nein, so wie die sind wir nicht, haben wir uns litauisch gefühlt. Aber wenn ich sage: Nein, wir haben keine freie Marktwirtschaft, die Globalisierung betrifft uns nicht, fühle ich mich doch deswegen nicht litauisch. Da komme ich mir eher bescheuert und steinzeitlich vor. Wie kann ich jetzt ein Patriot sein? Für welche positive Sache stehe ich? Wie definiert sich mein Land positiv?»

Gitanas residierte weiter in der halb verfallenen Villa. Die Suite des Adjutanten bot er seiner Mutter an, aber sie zog es vor, am Stadtrand von Ignalina wohnen zu bleiben. So, wie es von allen litauischen Funktionären der damaligen Zeit, vor allem von Revanchisten wie ihm, erwartet wurde, erwarb er einen Anteil ehemals kommunistischen Eigentums — eine zwanzigprozentige Beteiligung an Sucrosas, der Rübenzuckerraffinerie, die Litauens zweitgrößter Arbeitgeber mit nur einem Standort war — und lebte als pensionierter Patriot ziemlich komfortabel von den Dividenden.

Eine ganze Weile sah Gitanas, wie später Chip, einen Rettungsschimmer in der Person Julia Vrais' aufblitzen: in ihrer Schönheit, in der typisch amerikanischen Unbekümmertheit, mit der sie ihr Glück auf dem Weg des geringsten Widerstands suchte. Dann ließ Julia ihn in einem Flugzeug, das nach Berlin fliegen sollte, sitzen. Das war das jüngste Täuschungsmanöver in einem Leben, das ihm immer mehr wie eine einzige Aneinanderreihung von Täuschungsmanövern vorkam. Die Sowjets hatten ihn reingelegt, die litauischen Wähler hatten ihn reingelegt, Julia hatte ihn reingelegt. Am Ende legten ihn auch noch der IWF und die Weltbank rein, und vierzig Jahre Bitterkeit mündeten in den Scherz mit der Litauen AG.