Chip die Geschäfte der Parteigesellschaft Freier Markt zu übertragen war die erste gute Entscheidung, die er seit Langem getroffen hatte. Gitanas war nach New York geflogen, um sich einen Scheidungsanwalt zu suchen und, mit etwas Glück, einen billigen, nach Möglichkeit mittelalten und erfolglosen amerikanischen Schauspieler zu engagieren, der ihn nach Vilnius begleiten und allen, die bei der Litauen AG anrufen oder ihre Homepage besuchen würden, Vertrauen einflößen sollte. Warum ein so junger und talentierter Mann wie Chip sich bereitfand, für ihn zu arbeiten, war ihm ein Rätsel. Dass Chip mit seiner Frau geschlafen hatte, bestürzte ihn nur vorübergehend. Nach Gitanas' Erfahrung täuschte ihn über kurz oder lang ja ohnehin jeder. Er wusste es zu schätzen, dass Chip sein Täuschungsmanöver schon beendet hatte, bevor sie sich überhaupt begegnet waren.
Was Chip anging, so wurde sein Minderwertigkeitsgefühl als «armseliger Amerikaner» in Vilnius, der weder Russisch noch Litauisch sprach und dessen Vater nicht in den besten Jahren an Lungenkrebs gestorben war und dessen Großeltern nicht in Sibirien verschollen waren und den man noch nie seiner Ideale wegen in einer ungeheizten Zelle eines Militärgefängnisses gefoltert hatte, durch seinen Status als fähiger Mitarbeiter und durch die Erinnerung an einige äußerst schmeichelhafte Vergleiche aufgewogen, die Julia wiederholt zwischen ihm und Gitanas gezogen hatte. In den Kneipen und Clubs, in denen sich die beiden Männer oft gar nicht mehr die Mühe machten, die Frage, ob sie Brüder seien, mit Nein zu beantworten, hatte Chip den Eindruck, der Erfolgreichere von ihnen beiden, das sei er.
«Als stellvertretender Premierminister war ich ziemlich gut», sagte Gitanas trübsinnig. «Aber ein sonderlich guter krimineller Kriegsherr bin ich nicht.»
Kriegsherr war in der Tat eine etwas glorifizierende Bezeichnung für das, was Gitanas trieb. Es gab erste Anzeichen, die auf ein Scheitern hindeuteten und Chip nur allzu vertraut waren. Jede Minute, die er handelte, kostete ihn eine Stunde Gegrübel. Investoren aus aller Welt schickten ihm stattliche Summen, die er jeden Freitagnachmittag auf sein Konto bei der Credit Suisse einzahlte, doch er konnte sich nicht entscheiden, was er tun sollte; das Geld «ehrlich» verwenden (d. h. für die Parteigesellschaft Freier Markt Sitze im Parlament kaufen) oder schamlos Betrug begehen und seine unrechtmäßig erworbene harte Währung in noch illegitimere Geschäfte stecken. Eine Zeit lang tat er, wenn man so wollte, beides und nichts von beidem. Schließlich überzeugten ihn seine Markt-Recherchen (die darin bestanden, in der Kneipe betrunkene Ausländer zu befragen), dass im gegenwärtigen wirtschaftlichen Klima selbst ein Bolschewist bessere Chancen hatte, Wählerstimmen zu gewinnen, als eine Partei, die die Worte «Freier Markt» im Namen führte.
Als er auch den letzte Gedanken, sauber zu bleiben, aufgegeben hatte, stellte er Leibwächter ein. Schon bald fragte Victor Litschenkew seine Spione: Warum glaubt dieser gewesene Patriot Misevicius, dass er Schutz braucht? Als unbewachter gewesener Patriot hatte Gitanas lange nicht so viel zu befürchten gehabt wie jetzt, wo er zehn stramme Kalaschnikow-Jungs befehligte. Er war gezwungen, noch mehr Leibwächter einzustellen, und Chips Angst, erschossen zu werden, war so groß, dass er das Quartier nicht mehr ohne Begleitschutz verließ.
«Ihnen kann gar nichts passieren», versicherte ihm Gitanas. «Schon möglich, dass Litschenkew mich töten und die Firma übernehmen will. Aber Sie sind die Gans mit den goldenen Eierstöcken.»
Dennoch, wann immer Chip in der Öffentlichkeit herumlief, prickelte es ihm im Nacken, so verwundbar fühlte er sich. Am Abend des amerikanischen Thanksgiving wurde er Zeuge, wie zwei von Litschenkews Männern sich in einem Club mit dem Namen Musmiryte einen Weg durch die Menge bahnten, die sich auf dem klebrigen Fußboden drängte, und einem rothaarigen «Wein- und Spirituosenimporteur» sechs Löcher in den Bauch schossen. Dass Litschenkews Männer an Chip vorbeimarschiert waren, ohne ihm etwas anzutun, mochte zwar als Beweis für Gitanas' Behauptung durchgehen. Doch so, wie der «Wein- und Spirituosenimporteur» dalag, sah Chip außerdem, dass ein Körper, im Vergleich zu MP-Kugeln, genauso weich war, wie er immer befürchtet hatte. Enorme elektrische Ladungen fluteten die Nerven des sterbenden Mannes. Heftige Krämpfe, verborgene Vorräte an galvanischer Energie, ungemein quälende elektrochemische Prozesse in seinem Körper hatten offensichtlich sein Leben lang auf diesen Moment gewartet.
Gitanas tauchte eine halbe Stunde später im Musmiryte auf. «Mein Problem ist», sagte er, während er die Blutflecken betrachtete, «dass es mir leichter vorkommt, erschossen zu werden, als selbst zu schießen.»
«Sie machen sich schon wieder kleiner, als Sie sind», sagte Chip.
«Ich bin besser im Einstecken als im Austeilen.» «Im Ernst. Seien Sie nicht so streng mit sich.» «Töten oder getötet werden. Keine einfache Alternative.» Gitanas hatte sehr wohl versucht, selbst der Angreifer zu sein. Als krimineller Kriegsherr hatte er einen schönen Trumpf in der Hand: das Bargeld, das durch die Parteigesellschaft Freier Markt hereingekommen war. Nachdem Litschenkews Trupps den Reaktor in Ignalina umstellt und den Verkauf des litauischen Elektrizitätswerks erzwungen hatten, veräußerte Gitanas seine lukrativen Sucrosas-Anteile, plünderte die Schatzkammern der Parteigesellschaft Freier Markt und sicherte sich eine maßgebliche Beteiligung an der wichtigsten Mobiltelefongesellschaft Litauens. Die Firma, Transbaltikum Mobil, war in der Preisklasse, die für Gitanas in Frage kam, der einzige Anbieter. Er garantierte seinen Leibwächtern monatlich 1000 Freiminuten für Inlandsgespräche inklusive kostenloser Mailbox und Rufnummernanzeige, damit sie die Gespräche auf Litschenkews zahlreichen Transbaltikum-Handys abhörten. Als er auf diese Weise Wind davon bekam, dass Litschenkew kurz davor war, seine gesamten Aktien der Nationalen Gesellschaft für Gerberei- und Viehprodukte abzustoßen, konnte Gitanas seine eigenen Anteile ungedeckt verkaufen. Dieser Schachzug bescherte ihm einen hübschen Reingewinn, war auf lange Sicht aber fatal. Litschenkew, dem irgendjemand gesteckt hatte, dass seine Telefone abgehört wurden, wechselte zu einem sichereren regionalen Anbieter, der von Riga aus operierte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und griff Gitanas an.
Am Vorabend der Wahlen vom 20. Dezember legte ein «Störfall» in einem elektrischen Umspannwerk die Schaltzentrale der Transbaltikum Mobil sowie sechs ihrer Relaisstationen lahm. Eine Meute zorniger junger Handy-Benutzer aus Vilnius mit rasierten Schädeln und Ziegenbärten versuchte daraufhin, die Büroräume der Transbaltikum Mobil zu stürmen. Deren Geschäftsführung rief über herkömmliche Kupferdrahtleitungen um Hilfe; die zum Tatort eilenden «Polizisten» assistierten der Meute dabei, das Büro auszuräumen und dessen Schätze zu beschlagnahmen, bis drei Wagenladungen «Polizisten» aus dem einzigen Bezirk eintrafen, den Gitanas hatte schmieren können. Nach einer offenen Feldschlacht trat die erste Gruppe von «Polizisten» den Rückzug an, während die verbliebenen «Polizisten» die Meute auseinander trieben.
Die ganze Freitagnacht bis hinein in den Samstagmorgen arbeiteten die Techniker der Telefongesellschaft fieberhaft, um den Generator aus der Breschnew-Ära, der die Schaltzentrale mit Notstrom versorgte, zu reparieren. Die Sammelschiene des Generators war stark verrostet, und als der verantwortliche Mechaniker daran rüttelte, um ihre Festigkeit zu prüfen, brach sie aus ihrer Verankerung. Bei dem Versuch, sie im Licht von Kerzen und Taschenlampen wieder anzubringen, brannte der Mechaniker mit seiner Lötlampe ein Loch in die Hauptinduktionsspule, und da es, wegen der politischen Instabilität im Vorfeld der Wahlen, in ganz Vilnius keine anderen gasgetriebenen Wechselstromgeneratoren zu kaufen gab (und erst recht keine altmodischen Dreiphasengeneratoren, auf die man die Schaltzentrale umgerüstet hatte, bloß weil ein solcher Dreiphasengenerator aus der Breschnew-Ära damals billig zu haben gewesen war) und polnische und finnische Lieferfirmen sich, wegen nämlicher politischer Instabilität, inzwischen sträubten, irgendetwas nach Litauen zu verschiffen, ohne im Voraus harte westliche Währung dafür zu sehen, fiel das ganze Land, dessen Bürger, wie etliche ihrer westlichen Zeitgenossen, im Zuge der Verbilligung und immer universaleren Nutzung des Handys ihre Kupferdrahttelefone kurzerhand abgemeldet hatten, in puncto Kommunikation auf den Stand des neunzehnten Jahrhunderts zurück: Es herrschte tiefes Schweigen.