An einem sehr trüben Sonntagmorgen erhoben Litschenkew und seine aus Schmugglern und Killern bestehende
Kandidatentruppe der Volksstrom-Partei Anspruch auf 38 der 141 Sitze im Seimas. Doch der litauische Präsident, Audrius Vitkunas, ein charismatischer und paranoider Erznationalist, der Russland und den Westen gleichermaßen leidenschaftlich hasste, weigerte sich, die Wahlergebnisse für gültig zu erklären.
«Der tollwütige Litschenkew und seine schaummäuligen Höllenhunde machen mir keine Angst!», rief Vitkunas in einer Fernsehansprache am Sonntagabend. «Örtlicher Stromausfall, ein fast totaler Zusammenbruch des Telekommunikationssystems der Hauptstadt und ihres Umlands sowie die Präsenz schwer bewaffneter, aus Litschenkews bezahlten, schaummäuligen, speichelleckerischen Höllenhunden bestehender ‹Einsatztruppen› können mich nicht überzeugen, dass die gestrige Wahl den ureigenen Willen und kerngesunden Menschenverstand des großartigen und glorreichen, unsterblichen litauischen Volks widerspiegelt! Unter keinen Umständen werde, kann, darf und sollte ich diese dreckbesudelten, madenzerfressenen, tertiärsyphilitischen Ergebnisse der nationalen Parlamentswahlen für gültig erklären!»
Gitanas und Chip schauten sich diesen Auftritt im ehemaligen Ballsaal der Villa im Fernsehen an. Zwei Leibwächter saßen in einer Ecke des Raums am Computer und spielten leise Dungeonmaster, während Gitanas für Chip die prächtigeren Perlen der Vitkunas'schen Rhetorik übersetzte. In den Flügelfenstern war das torfige Licht des kürzesten Tags tiefer Dunkelheit gewichen.
«Ich hab bei der Sache ein ungutes Gefühl», sagte Gitanas. «Ich glaube, Litschenkew will Vitkunas über den Haufen schießen und dann sein Glück mit dem Nachfolger versuchen, wer immer das ist.»
Chip, der sich größte Mühe gab zu vergessen, dass in vier Tagen Weihnachten war, wollte nicht unbedingt in Vilnius bleiben, nur um eine Woche nach den Feiertagen fortgejagt zu werden. Er fragte Gitanas, ob er schon daran gedacht habe, das
Credit-Suisse-Konto aufzulösen und das Land zu verlassen.
«O ja, natürlich.» Gitanas trug seine rote Motocross-Jacke und schlang sich die Arme um den Körper. «Jeden Tag träume ich davon, bei Bloomingdale's einkaufen zu gehen. Jeden Tag denke ich an den großen Baum vorm Rockefeller Center.»
«Was hält Sie dann noch hier?»
Gitanas kratzte sich am Kopf und roch an seinen Fingernägeln, das Kopfhautaroma mit den Hautfettgerüchen seiner Nasenpartie mischend; offensichtlich fand er Trost im Talg. «Wenn ich abhaue», sagte er, «und der Sturm sich legt, wo stehe ich dann? Ich bin doch dreifach angeschmiert. In Amerika kann mich keiner einstellen. Ab nächstem Monat bin ich nicht mehr mit einer Amerikanerin verheiratet. Und meine Mutter lebt in Ignalina. Was soll ich in New York?»
«Wir könnten in New York weitermachen.»
«Da gibt's Gesetze. Die würden uns innerhalb einer Woche den Hahn zudrehen. Ich bin dreifach angeschmiert.»
Gegen Mitternacht ging Chip nach oben und schob sich zwischen seine dünnen, kalten Ostblocklaken. In seinem Zimmer hing der Geruch von feuchtem Mörtel, Zigaretten und intensiven synthetischen Shampooduftnoten, wie sie der baltischen Nase schmeichelten. Seine Gedanken nahmen ihr eigenes Schwirren wahr. Es gelang ihm nicht, in den Schlaf zu sinken, er zuckte immer wieder hoch wie ein übers Wasser hüpfender Stein. Mehrfach hielt er das Licht, das von der Straße durch sein Fenster fiel, für Tageslicht. Er ging hinunter und stellte fest, dass es schon später Nachmittag war, Heiligabend; da ergriff ihn die panische Angst eines Menschen, der verschlafen hatte, die Angst, ins Hintertreffen geraten zu sein, ein Informationsdefizit zu haben. Seine Mutter bereitete in der Küche das Weihnachtsabendessen zu. Sein Vater, jugendlich in Lederjacke, saß im dämmrigen Ballsaal und schaute die CBS-Abendnachrichten mit Dan Rather. Höflichkeitshalber fragte Chip ihn, was es für Neuigkeiten gebe.
«Sag Chip», antwortete Alfred, der ihn nicht erkannte, «dass da im Osten Unruhen sind.»
Das wirkliche Tageslicht kam um acht. Geschrei auf der Straße weckte ihn. Sein Zimmer war ausgekühlt, aber nicht eisig; der Heizstrahler roch nach warmem Staub — der zentrale Heißwasserspeicher der Stadt funktionierte, die gesellschaftliche Ordnung war noch intakt.
Durch die Zweige der Fichten vor seinem Fenster sah er, dass sich hinter dem Zaun mehrere Dutzend Männer und Frauen in unförmigen Mänteln zu einer Menge zusammengerottet hatten.
Eine feine Schicht Schnee war in der Nacht gefallen. Zwei von Gitanas' Sicherheitsleuten, die Brüder Jonas und Aidaris — große blonde Kerle mit halb automatischen Gewehren über der Schulter — , verhandelten durch die Stäbe des vorderen Gittertors mit zwei mittelalten Frauen, deren messingfarbenes Haar und rote Gesichter, wie die Wärme des Heizstrahlers, Zeugnis vom Fortgang des alltäglichen Lebens gaben.
Unten hallte der Ballsaal von emphatischen litauischen Fernsehansprachen wider. Gitanas saß an derselben Stelle, wo Chip ihn am vergangenen Abend zurückgelassen hatte, trug jedoch andere Kleider und schien geschlafen zu haben.
Das graue Morgenlicht, der Schnee auf den Bäumen und das gewisse Vorgefühl von Chaos und Auflösung erinnerten an das Ende eines Herbstsemesters, den letzten Prüfungstag vor den Weihnachtsferien. Chip ging in die Küche und goss Vitasoy-Delite-Vanillesojamilch auf eine Schüssel «Barbaras unbehandelte leicht bekömmliche Vollwertflocken». Er trank ein wenig von dem dickflüssigen deutschen Bio-Schwarzkirschsaft, den er kürzlich für sich entdeckt hatte. Dann kochte er zwei Becher Instantkaffee und nahm sie mit in den Ballsaal, wo Gitanas inzwischen den Fernseher ausgeschaltet hatte und wieder an seinen Fingernägeln schnüffelte.
Chip fragte ihn, was es für Neuigkeiten gebe.
«Alle meine Leibwächter außer Jonas und Aidaris sind abgehauen», sagte Gitanas. «Mit dem VW und dem Lada. Ich glaube kaum, dass sie zurückkommen.»
«Wer braucht schon Angreifer, wenn er solche Beschützer hat?», sagte Chip.
«Sie haben uns den Stomper hier gelassen; der zieht Verbrechen geradezu magnetisch an.»
«Wann war das?»
«Ich vermute, gleich nachdem Präsident Vitkunas die Armee in Alarmbereitschaft versetzt hatte.»
Chip lachte. «Und wann war das?»
«Heute Morgen. In der Stadt läuft offenbar noch alles normal — mit Ausnahme von Transbaltikum Mobil natürlich», sagte Gitanas.
Die Menge auf der Straße war angewachsen. Vielleicht hundert Leute standen jetzt vor dem Haus und hielten allesamt ihre Handys hoch, aus denen ein schauriger, engelhafter Gesang ertönte. Es war der ZUR ZEIT AUSSER BETRIEB-Refrain.
«Ich möchte, dass Sie nach New York zurückkehren», sagte Gitanas. «Was hier passiert, werden wir sehen. Vielleicht komme ich nach, vielleicht auch nicht. Über Weihnachten muss ich erst mal zu meiner Mutter. Hier ist Ihre Abfindung.»