Er warf Chip einen dicken braunen Umschlag zu, und im selben Moment hallten die Außenwände der Villa von vielfachen dumpfen Schlägen wider. Chip ließ den Umschlag fallen. Ein Stein krachte durch eines der Fenster, prallte einmal vom Boden ab und blieb neben dem Fernseher liegen. Der Stein war vierkantig: die abgebrochene Ecke eines Granitpflastersteins. Er war mit frischer Feindseligkeit überzogen und sah leicht verlegen aus.
Gitanas rief über die Kupferdrahtleitung bei der «Polizei» an und meldete erschöpft, was passiert war. Die Brüder Jonas und Aidaris, Finger am Abzug, kamen durch die Eingangstür, kalte Luft mit einem fichtigen Jularoma hereinbringend. Die Brüder waren Gitanas' Vettern; das erklärte vermutlich, warum sie nicht mit den anderen desertiert waren. Gitanas legte auf und besprach sich mit ihnen auf Litauisch.
Der braune Umschlag enthielt ein sattes Bündel Fünzig- und Hundertdollarscheine.
Chips banges Traumgefühl, er könne zu spät bemerkt haben, dass Weihnachten war, hielt auch bei Tageslicht vor. Keiner der jungen Webheads war heute zur Arbeit erschienen, und gerade hatte er von Gitanas etwas geschenkt bekommen, und Schnee klebte an Fichtenzweigen, und Weihnachtssänger in unförmigen Mänteln standen vor dem Tor…
«Packen Sie Ihre Sachen», sagte Gitanas. «Jonas fährt Sie zum Flughafen.»
Mit leerem Kopf und leerem Herzen ging Chip nach oben. Auf der Veranda vor dem Haus hörte er Schüsse, das Tingeling fallender Patronenhülsen, Jonas und Aidaris, die (hoffte er) in den Himmel zielten. Kling, Glöckchen, kling.
Er zog seine Lederhose und Lederjacke an. Das Packen seiner Sachen verband ihn mit dem Moment des Auspackens Anfang Oktober, eine Zeitschleife wurde vollendet und eine Zugschnur festgezurrt, die die dazwischen liegenden zwölf Wochen verschwinden ließ. Da stand er nun wieder und packte.
Gitanas, den Blick auf die Nachrichten geheftet, roch an seinen Fingern, als Chip in den Ballsaal zurückkam. Auf dem Fernsehbildschirm bewegte sich Victor Litschenkews Schnurrbart rauf und runter.
«Was sagt er da?»
Gitanas zuckte die Achseln. «Dass Vitkunas der Situation geistig nicht gewachsen sei und so weiter. Dass Vitkunas einen Putsch inszeniere, um die rechtmäßige Entscheidung des litauischen Volkes aufzuheben und so weiter.»
«Sie sollten mit mir kommen», sagte Chip.
«Erst muss ich zu meiner Mutter», sagte Gitanas. «Ich ruf Sie nächste Woche an.»
Chip schloss seinen Freund in die Arme und drückte ihn an sich. Er konnte das Kopfhautfett riechen, das Gitanas in seiner Aufregung geschnüffelt hatte. Ihm war, als umarme er sich selbst, als spüre er seine eigenen Primatenschulterblätter, das Kratzen seines eigenen Wollpullovers. Er spürte auch die Schwermut seines Freundes — wie nicht anwesend, wie abgelenkt oder verschlossen er war — und fühlte sich sofort genauso verloren.
Draußen auf dem Kiesweg vor der Haustür hupte Jonas.
«Wir sehen uns in New York», sagte Chip.
«Gut, vielleicht.» Gitanas machte sich los und ging wieder zum Fernseher.
Als Jonas und Chip durch das geöffnete Tor brausten, wurde der Stomper von den wenigen Demonstranten, die noch übrig geblieben waren, mit Steinen beworfen. Sie fuhren aus dem Stadtzentrum hinaus Richtung Süden, vorbei an abweisenden Tankstellen und braunwandigen, verkehrsnarbigen Gebäuden, die an Tagen wie diesem, wenn das Wetter rau und das Licht karg war, umso glücklicher und authentischer wirkten. Jonas konnte nur wenig Englisch, schaffte es aber, sich Chip gegenüber tolerant, vielleicht sogar freundlich zu geben, während er immer wieder in den Rückspiegel sah. Verkehr herrschte an diesem Morgen kaum, und große Geländewagen, die Arbeitspferde der Kriegsherrenkaste, erregten, in Zeiten politischer Instabilität, ein ungesundes Maß an Aufmerksamkeit.
Der kleine Flughafen war von jungen Leuten belagert, die in den Sprachen des Westens durcheinander redeten. Seit der Quad Cities Fund die Lietuvos Avialinijos aufgelöst hatte, waren einige der Strecken von anderen Fluggesellschaften übernommen worden, doch der eingeschränkte Flugplan (vierzehn Flüge am Tag in die Hauptstädte Europas) war nicht darauf ausgelegt, mit einem solchen Passagieraufkommen fertig zu werden. Hunderte von britischen, deutschen und amerikanischen Studenten und Geschäftsleuten, darunter viele Gesichter, die Chip von seinen Zechtouren mit Gitanas her kannte, drängelten sich an den Ticketschaltern von Finnair, Lufthansa, Aeroflot und der polnischen LOT.
Tapfere Stadtbusse karrten immer neue Ladungen ausländischer Bürger heran. Soweit Chip erkennen konnte, bewegte sich keine der Schlangen an den Schaltern auch nur einen Millimeter vorwärts. Er studierte die Abflugtafel und entschied sich für die Gesellschaft mit der höchsten Flugfrequenz: Finnair.
Am Ende der sehr langen Finnair-Schlange standen zwei amerikanische Studentinnen mit Schlaghosen und anderen Sechziger-Jahre-Revival-Kleidungsstücken. Sie hießen Tiffany und Cheryl, wenn er ihren Gepäckaufklebern Glauben schenken durfte.
«Habt ihr Tickets?», fragte Chip.
«Für morgen», sagte Tiffany. «Aber hier sieht's ja irgendwie übel aus, also.»
«Bewegt sich die Schlange vorwärts?» «Weiß ich nicht. Wir sind erst seit zehn Minuten hier.» «Sie hat sich seit zehn Minuten nicht vorwärts bewegt?» «Da vorn am Schalter sitzt bloß eine einzige Figur», sagte Tiffany. «Aber nicht, dass es hier irgendwo 'n anderen, besseren Finnair-Schalter gäbe oder so.»
Chip war verwirrt und musste sich beherrschen, nicht ein Taxi zu rufen und zu Gitanas zurückzufahren.
Cheryl sagte zu Tiffany: «Mein Dad also zu mir, du musst untervermieten, wenn du nach Europa willst, und ich zu ihm, ich hab Anna aber versprochen, dass sie an den Heimspielwochenenden bei mir wohnen kann, um mit Jason zu schlafen, okay? Das kann ich ja wohl schlecht wieder zurücknehmen — oder? Und da wird mein Dad auf einmal so oberpedantisch, und ich dann, hallo, das ist meine Wohnung, ja? Du hast sie für mich gekauft, oder? Und ich soll da irgend so 'nen Fremden reinlassen, verstehst du — irgend so 'nen Typen, der was auf meinem Herd brutzelt und in meinem Bett schläft?» Tiffany sagte: «Das ist ja so was von herbe.» Cheryl sagte: «Und mein Kopfkissen benutzt?» Zwei weitere Nichtlitauer, ein belgisches Paar, stellten sich hinter Chip an. Allein die Tatsache, nicht mehr der Letzte in der Schlange zu sein, brachte schon ein wenig Erleichterung. Auf Französisch bat Chip die Belgier, auf seine Tasche aufzupassen und seinen Platz für ihn zu halten. Er ging in die Herrentoilette, schloss sich in einer Kabine ein und zählte das Geld, das Gitanas ihm gegeben hatte. Es waren 29250 Dollar.
Das verstörte ihn irgendwie. Machte ihm Angst. Eine Lautsprecherstimme in der Toilette sagte, zuerst auf Litauisch, dann auf Russisch, dann auf Englisch, dass der LOT-Flug Nummer 331 aus Warschau gestrichen worden sei.
Chip steckte zwanzig Hunderter in seine T-Shirt-Tasche, zwanzig Hunderter in seinen linken Stiefel und schob den Rest des Geldes wieder in den Umschlag, den er unter seinem T-Shirt, direkt am Bauch, verbarg. Er wünschte, Gitanas hätte ihm das Geld nicht gegeben. Ohne das Geld hätte er einen guten Grund gehabt, in Vilnius zu bleiben. Jetzt, wo es dazu keinen guten Grund mehr gab, trat eine einfache, im Lauf der letzten zwölf Wochen schön verhüllte Tatsache in der fäkalen, urinösen Toilettenkabine splitternackt zutage: die einfache Tatsache, dass er Angst hatte, nach Hause zu fahren.
Kein Mensch sieht gern seiner eigenen Feigheit ins Auge, Chip war wütend auf das Geld, wütend auf Gitanas, der es ihm gegeben hatte, und wütend auf Litauen, das in die Knie ging, doch die Tatsache, dass er Angst hatte, nach Hause zu fahren, blieb bestehen, und außer ihm selbst war niemand daran schuld.
Er nahm seinen Platz in der Finnair-Schlange, die sich noch immer keinen Zentimeter bewegt hatte, wieder ein. Lautsprecher verkündeten, Flug Nummer 1048 aus Helsinki sei gestrichen worden. Ein allgemeines Stöhnen erhob sich, und Körper schoben sich weiter, sodass die Spitze der Schlange am Schalter stumpf wie ein Delta wurde.