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Cheryl und Tiffany beförderten ihre Taschen mit Fußtritten vorwärts. Chip beförderte seine Tasche mit Fußtritten vorwärts. Er fühlte sich der Welt zurückgegeben, und das behagte ihm nicht. Eine Art Krankenhauslicht, ein Licht voller Ernst und Unausweichlichkeit, fiel auf die Mädchen und das Gepäck und das uniformierte Finnair-Personal. Nirgendwo konnte Chip sich verstecken. Alle, die in seiner Nähe standen, lasen Romane. Er selbst hatte seit mindestens einem Jahr keinen Roman mehr gelesen. Der Gedanke ängstigte ihn beinahe genauso wie der Gedanke an Weihnachten in St. Jude. Am liebsten wäre er hinausgegangen, um sich ein Taxi herbeizuwinken, doch er vermutete, dass Gitanas bereits aus der Stadt geflohen war.

Er stand im harten Licht, bis es 14.00 Uhr und dann 14.30 Uhr war — früher Morgen in St. Jude. Während die Belgier erneut auf seine Tasche aufpassten, stellte er sich ans Ende einer anderen Schlange, um ein Ferngespräch zu führen.

Enids Stimme war undeutlich und klein. «Hallo?»

«Hi, Mom, ich bin's.»

Augenblicklich verdreifachten sich Höhe und Lautstärke ihrer Stimme. «Chip? Oh, Chip! Al, es ist Chip! Es ist Chip! Chip, wo bist du?»

«Ich bin am Flughafen von Vilnius. Ich bin auf dem Weg nach Hause.»

«Oh, wie herrlich! Wie herrlich! Wie herrlich! Wann kommst du hier an?»

«Ich habe noch kein Ticket», sagte er. «Hier geht im Moment alles Drunter und Drüber. Aber irgendwann morgen Nachmittag.

Spätestens Mittwoch.»

«Herrlich!»

Auf die Freude in der Stimme seiner Mutter war er nicht ge-fasst gewesen. Falls er jemals gewusst hatte, dass er einem anderen Menschen Freude bereiten konnte, hatte er es längst vergessen. Er bemühte sich, seine Stimme unter Kontrolle und die Anzahl seiner Wörter gering zu halten. Er sagte, er werde wieder anrufen, sobald er an einem besseren Flughafen sei.

«Das sind ja herrliche Nachrichten», sagte Enid. «Ich bin ja so froh!»

«Gut, also dann, bis bald.»

Schon bahnte sich von Norden her die gewaltige baltische Winternacht ihren Weg. Veteranen von der Spitze der Finnair-Schlange berichteten, alle Maschinen an diesem Tag seien ausgebucht und mindestens eine davon werde wahrscheinlich noch gestrichen, doch Chip hoffte, er brauche nur ein paar Hunderter zu zücken, um sich jene «Ellbogen-Vorrechte» zu sichern, die er auf Lithuania.com verspottet hatte. Und falls das misslang, wollte er jemandem für viel Bargeld ein Ticket abkaufen.

Cheryl sagte: «O Gott, Tiffany, vom Laufband kriegt man ja einen so totalen Muskelhintern!»

Tiffany sagte: «Nur wenn man ihn rausstreckt, sag ich mal.»

Cheryl sagte: «Alle strecken ihn raus. Das geht gar nicht anders. Die Beine werden so müde.»

Tiffany sagte: «Maann! Das ist ein Laufband! Die Beine sollen müde werden!»

Cheryl schaute aus dem Fenster, und ihr studentischer Hochmut schwand hörbar, als sie fragte: «Entschuldigt mal, warum steht da ein Panzer mitten auf dem Rollfeld?»

Eine Minute später gingen die Lichter aus, und die Telefonleitungen waren tot.

EIN LETZTES WEIHNACHTEN

UNTEN IM KELLER, am östlichen Ende der Tischtennisplatte, war Alfred dabei, einen Maker's-Mark- Whiskeykarton auszupacken, in dem die elektrischen Lichterketten für den Weihnachtsbaum aufbewahrt wurden. Er hatte schon verschreibungspflichtige Medikamente und Utensilien für einen Einlauf auf der Platte liegen. Er hatte ein von Enid frisch gebackenes Plätzchen, dessen Form an einen Terrier erinnerte, aber ein Rentier sein sollte. Er hatte einen Sirupkarton der Firma Log Cabin, in dem sich die großen bunten Lichter befanden, die er früher immer draußen in die Eiben gehängt hatte. Er hatte eine halb automatische Schrotflinte in einer Segeltuchhülle mit Reißverschluss und eine Schachtel zwanzigkalibriger Patronen. Er hatte einen selten klaren Kopf und den Willen, ihn auch zu nutzen, solange die Klarheit vorhielt.

Ein schattiges Spätnachmittagslicht war in den Fensterschächten eingesperrt. Der Heizkessel sprang häufig an, das Haus war undicht. Als wäre Alfred ein Holzklotz oder ein Stuhl, so hing sein roter Pullover, asymmetrische Falten und Wülste bildend, an ihm. Seine grauen Wollhosen waren von Flecken befallen, die er dulden musste, denn die einzige Alternative hieß, den Verstand zu verlieren, und ganz so weit war er noch nicht.

Zuoberst im Maker's-Markkarton fand er ein sehr langes, unförmig um ein Stück Pappe gewundenes Kabel mit weißen elektrischen Weihnachtskerzen. Das Kabel stank nach dem Schimmel aus dem Geräteschuppen unter der Veranda, und als er den Stecker in die Dose steckte, sah er sofort, dass nicht alles in Ordnung war. Die meisten Lichter brannten hell, doch in der Nähe der Spule gab es einen Abschnitt Glühbirnen, die nicht leuchteten — eine Substantia nigra tief im Innern des Knäuels. Er wickelte das Kabel von der Spule und fierte es auf die Tischtennisplatte. Ganz am Ende war eine unansehnliche Reihe kaputter Glühbirnen.

Er wusste, was die moderne Welt jetzt von ihm erwartete. Die moderne Welt erwartete, dass er zu einem großen Verbrauchermarkt fuhr und die schadhafte Lichterkette gegen eine neue auswechselte. Doch die Verbrauchermärkte waren zu dieser Zeit des Jahres heillos überfüllt; er würde zwanzig Minuten lang Schlange stehen müssen. Ihm machte Anstehen ja nichts aus, aber Enid ließ ihn nicht mehr Auto fahren, und Enid machte Anstehen eine Menge aus. Sie war oben und peitschte sich über die Zielgerade der Weihnachtsvorbereitungen.

Viel besser, dachte Alfred, wenn er sich gar nicht erst blicken ließ und im Keller blieb, wenn er mit dem arbeitete, was er hatte. Eine zu neunzig Prozent funktionierende Lichterkette wegzuwerfen verletzte sein Gefühl für die Verhältnismäßigkeit und Ökonomie der Dinge. Ja, es verletzte sein Selbstwertgefühl, weil er ein Individuum eines Individuenzeitalters war, und eine Lichterkette war genauso individuell wie er. Egal, wie wenig sie gekostet hatte, sie wegzuwerfen hieß, ihren Wert und, noch einen Schritt weitergedacht, den Wert des Individuums an sich zu leugnen: etwas eigenmächtig als Müll zu definieren, obwohl man genau wusste, dass es keiner war.

Die moderne Welt erwartete eine solche Definition, und Alfred verweigerte sie ihr.

Leider wusste er nicht, wie man die Lichter reparierte. Er begriff nicht, wie es möglich war, dass ganze fünfzehn Glühbirnen am Stück den Geist aufgaben. Als er sich den Übergang von Licht zu Dunkelheit genauer ansah, konnte er zwischen der letzten brennenden und der ersten kaputten Birne keinen Unterschied feststellen. Es gelang ihm nicht, die drei Drähte, aus der das Kabel bestand, durch all ihre Windungen und Verflechtungen hindurch zu verfolgen. Die Schaltung des Stromkreises war auf irgendeine komplexe Weise, deren Sinn sich ihm entzog, semiparallel.

In alten Zeiten hatte es Weihnachtsbaumlichter an kurzen Kabeln mit Serienschaltung gegeben. Wenn auch nur eine einzige Glühbirne durchbrannte oder sich in ihrer Fassung lockerte, war der Stromkreis sofort unterbrochen, und alle Lichter gingen aus. Für Gary und Chip war es ein Weihnachtsritual gewesen, jede kleine messingfüßige Glühbirne an der erloschenen Kette festzuschrauben und, wenn das nichts nützte, eine Birne nach der anderen auszuwechseln, bis der Übeltäter gefunden war. (Und wie hatten sich die Jungen über die Wiederauferstehung einer Kette gefreut!) Als später Denise dazukam und mithelfen wollte, war die Technik schon fortgeschritten. Es gab Parallelschaltungen, und die Glühbirnen hatten Klemmsockel aus Plastik. Ein einziges schadhaftes Licht zog nicht die ganze Korona in Mitleidenschaft, sondern bekannte sich auf der Stelle schuldig, sodass es auf der Stelle ausgewechselt werden konnte…

Alfreds Hände rotierten an ihren Gelenken wie die Zwillingsarme eines Schneebesens. So gut es irgend ging, bewegte er seine Finger an dem Kabel entlang, drückte und zwirbelte an den Drähten — und der dunkle Abschnitt leuchtete wieder auf! Die Lichterkette war vollständig!