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Kaum waren die Meisners jedoch abgeflogen, begann Enids Scham, sie wusste auch nicht, wieso, nachzulassen. Als wäre ein böser Zauber von ihr gewichen, schlief sie besser und dachte weniger an das Mittel. Was den Gefallen betraf, um den sie Bea gebeten hatte, machte sie von ihrer Gabe der selektiven Vergesslichkeit Gebrauch. Allmählich bekam sie wieder das Gefühl, sie selbst, und das hieß: optimistisch zu sein.

Sie kaufte zwei Tickets für einen Flug nach Philadelphia am 15. Januar. Sie erzählte ihren Freundinnen, dass die Axon Corporation eine vielversprechende neue Gehirnarznei namens Korrektal teste und dass Alfred, da er sein Patent an Axon verkauft habe, als Testperson infrage komme. Sie sagte, dass Denise ein Engel sei und ihr und Alfred angeboten habe, für die Dauer der Tests bei ihr in Philadelphia zu wohnen. Sie sagte, nein, Korrektal sei kein Abführmittel, es sei ein revolutionäres neues Medikament gegen die Parkinson'sche Krankheit. Sie sagte, ja, der Name sei verwirrend, aber ein Abführmittel sei es nicht.

«Erklär den Leuten von Axon», bat sie Denise, «dass Dad ein paar geringfügige halluzinatorische Symptome hat, sein Arzt aber der Meinung ist, sie kämen wahrscheinlich von den Medikamenten. Denn falls Korrektal ihm hilft, brauchen wir ihm die Medikamente nicht mehr zu geben, weißt du, und dann hören die Halluzinationen wahrscheinlich auf.»

Nicht nur ihren Freundinnen, sondern allen ihren Bekannten in St. Jude, einschließlich ihres Schlachters, ihres Börsenmaklers und ihres Briefträgers, erzählte sie, dass ihr Enkel Jonah sie zu Weihnachten besuchen komme. Natürlich war sie enttäuscht, dass Gary und Jonah nur drei Tage bleiben und schon am Fünfundzwanzigsten mittags wieder abreisen wollten, doch auch in drei Tagen konnte man eine ganze Menge Schönes unterbringen. Sie hatte Karten für die Weihnachtsland-Lichtershow und den Nussknacker; außerdem standen Weihnachtsbaumschmücken, Schlittenfahren, Singen und ein Gottesdienst am Heiligen Abend auf dem Programm. Sie kramte Plätzchenrezepte hervor, nach denen sie zwanzig Jahre lang nicht gebacken hatte. Sie deckte sich mit Eierflip ein.

Am Sonntag vor Weihnachten wachte sie um 3 Uhr 05 auf und dachte: Sechsunddreißig Stunden. Vier Stunden später stand sie auf und dachte: Zweiunddreißig Stunden. Spät am Tag ging sie mit Alfred zur Weihnachtsfeier des Nachbarschaftsvereins bei Dale und Honey Driblett, platzierte Alfred neben Kirby Root, wo er sicher war, und rief ihren Nachbarn in Erinnerung, dass ihr Lieblingsenkel, der sich schon das ganze Jahr auf Weihnachten in St. Jude freue, morgen Nachmittag ankommen werde. Sie spürte Alfred in der Driblett'schen Gästetoilette auf und hatte wegen seiner angeblichen Verstopfung unerwartet Streit mit ihm. Sie nahm ihn mit nach Hause und brachte ihn zu Bett, löschte den Streit aus ihrem Gedächtnis und setzte sich ins Esszimmer, um ein weiteres Dutzend Weihnachtskarten aus dem Ärmel zu schütteln.

Der Weidenkorb für die hereinkommende Weihnachtspost enthielt bereits einen zehn Zentimeter dicken Packen mit Karten von alten Freundinnen wie Norma Greene und neuen Freundinnen wie Sylvia Roth. Mehr und mehr Absender schickten vervielfältigte oder am Computer erstellte Grüße, doch davon wollte Enid nichts wissen. Selbst wenn es bedeutete, dass sie nicht rechtzeitig fertig wurde, hatte sie sich vorgenommen, einhundert Karten per Hand zu schreiben und knapp zweihundert Umschläge per Hand zu adressieren. Neben ihrem zwei Absätze langen Standardgruß und ihrem vier Absätze langen ausführlichen Gruß hatte sie noch einen speziellen Kurzgruß in petto:

Unsere Herbstfarben-Kreuzfahrt entlang der Küste von New England und Kanada war herrlich. Al nahm ein unerwartetes «Bad» im Golf von St. Lawrence, fühlt sich aber schon wieder «seetüchtig»! Denise' superelegantes neues Restaurant in Phila. wurde ausführlich in der NY-Times gewürdigt. Chip arbeitet weiterhin bei seiner Anwaltsfirma in NYC und befasst sich mit Investitionen in Osteuropa. Wir hatten eine unvergessliche Zeit mit Gary und unserem «Wunderknaben» Jonah hier bei uns. Hoffe, dass die ganze Familie über Weihnachten nach St. Jude kommt — eine himmlische Freude für mich! Alles Liebe euch allen. Es war schon zehn Uhr, und sie schüttelte gerade einen Krampf in ihrer Schreibhand aus, als Gary aus Philadelphia anrief.

«Wie schön, euch beide in siebzehn Stunden hier zu sehen!», sang Enid ins Telefon.

«Schlechte Nachrichten», sagte Gary. «Jonah hat sich übergeben und fiebert. Ich glaube nicht, dass ich ihn mit ins Flugzeug nehmen kann.»

Das Kamel der Enttäuschung scheute vor dem Nadelöhr von Enids Bereitschaft, das Gehörte zu begreifen.

«Warte ab, wie es ihm morgen geht», sagte sie. «Kinder haben doch manchmal solche Vierundzwanzig-Stunden-Infekte, bestimmt ist er morgen wieder auf dem Damm. Zur Not kann er sich im Flugzeug ausruhen und früh ins Bett gehen und am Dienstag lange schlafen!»

«Mutter.»

«Wenn er wirklich krank ist, Gary, dann verstehe ich, dass er nicht kommen kann. Aber wenn er kein Fieber mehr hat — »

«Glaub mir, wir alle sind enttäuscht. Vor allem Jonah.»

«Wir müssen ja nicht sofort eine Entscheidung treffen.

«Morgen ist auch noch ein Tag.»

«Ich will dich nur vorwarnen, dass ich wahrscheinlich allein kommen werde.»

«Na schön, Gary, aber morgen früh kann die Welt schon ganz, ganz anders aussehen. Warte doch einfach ab, und dann entscheidest du und überraschst mich. Bestimmt wird alles gut!»

Es war die Jahreszeit der Freude und Wunder, und Enid ging voller Hoffnung ins Bett.

Sehr früh am nächsten Morgen weckten — belohnten! — sie das Klingeln des Telefons, der Klang von Chips Stimme, die Nachricht, dass er innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden aus Litauen nach Hause kommen werde und die Familie am Weihnachtsabend somit vollzählig sei. Sie summte vor sich hin, während sie die Treppe hinunterstieg und eine weitere Miniatur an den Adventskalender heftete, der an der Haustür hing.

Solange irgendjemand zurückdenken konnte, hatten die Damen vom Dienstagskreis der Kirche Geld für den Klingelbeutel eingenommen, indem sie Adventskalender bastelten. Und zwar nicht wie Enid sich stets zu erklären beeilte, solche billigen, in Zellophan eingeschweißten Pappangelegenheiten mit Fensterchen, die es für fünf Dollar überall zu kaufen gab. Nein, diese Kalender waren wunderhübsch von Hand genäht und wieder verwendbar. Ein grüner Filzweihnachtsbaum prangte auf einem Viereck aus gebleichtem Stramin, dessen oberer und unterer Rand mit jeweils zwölf nummerierten Taschen bestickt war.

Jeden Morgen in der Adventszeit durften die Kinder eine Miniatur aus einer der Taschen holen — ein winziges Schaukelpferd aus Filz und Ziermünzen, eine gelbe Filzschildkröte oder einen mit Ziermünzen geschmückten Spielzeugsoldaten — und sie an den Filzbaum heften. Selbst jetzt, wo ihre Kinder alle erwachsen waren, ließ Enid es sich nicht nehmen, die Miniaturen jedes Jahr am 30. November zu mischen und auf die Taschen zu verteilen. Nur in der vierundzwanzigsten Tasche steckte immer dasselbe: ein klitzekleines Christkind aus Plastik in einer golden besprühten Walnussschale. Obwohl es Enid in ihren christlichen Überzeugungen sonst erheblich an Eifer gebrach, war sie, was diese Miniatur betraf, geradezu fromm. Es war für sie nicht bloß die Ikone des Herrn, sondern auch die Ikone ihrer eigenen drei Babys und aller anderen süßen, nach Baby riechenden Babys auf der Welt. Dreißig Jahre lang hatte sie die vierundzwanzigste Tasche bestückt, sie wusste ganz genau, was sich darin verbarg, und doch konnte ihr der Gedanke, sie zu öffnen, immer noch den Atem rauben.

«Ist es nicht herrlich, dass Chip kommt?», fragte sie Alfred beim Frühstück.

Alfred schaufelte seine Hamsterkügelchen Kleie in sich hinein und trank seinen morgendlichen Becher heißer, mit Wasser verdünnter Milch. Sein Ausdruck war der einer perspektivischen Regression hin zu einem Fluchtpunkt des Leids.