«Chip kommt morgen», wiederholte Enid. «Ist das nicht herrlich? Freust du dich nicht?»
Alfred beriet sich mit der durchweichten Kleie auf seinem wandernden Löffel. «Na ja», sagte er. «Wenn er denn kommt.»
«Er hat gesagt, er ist morgen Nachmittag hier», sagte Enid. «Wenn er nicht zu müde ist, kann er vielleicht mit in den Nussknacker gehen. Ich habe immer noch sechs Karten.»
«Ich bin skeptisch», sagte Alfred.
Dass seine Bemerkungen sich tatsächlich auf ihre Fragen bezogen — dass er trotz der Unendlichkeit, die in seinem Blick lag, an einem endlichen Gespräch teilnahm — , entschädigte sie dafür, dass er ein so säuerliches Gesicht machte.
Enid hatte all ihre Hoffnungen, als wären sie ein Baby in einer Walnussschale, an Korrektal geheftet. Falls sich herausstellte, dass Alfred zu verwirrt war, um an der Testreihe teilzunehmen, wusste sie nicht, was sie noch tun sollte. Ihr Leben hatte daher merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Leben mancher ihrer Freunde, Chuck Meisner und Joe Person vor allem, die «süchtig» danach waren, ihre Investitionen im Auge zu behalten. Bea behauptete, Chuck sei derart besessen, dass er zwei- bis dreimal in der Stunde den Computer einschalte und die Kurse überprüfe, und als Enid und Alfred das letzte Mal mit den Persons ausgegangen waren, hatte Joe Enid wahnsinnig gemacht, indem er vom Restaurant aus mit seinem Handy drei verschiedene Broker anrief. In Bezug auf Alfred jedoch war sie keinen Deut anders: registrierte peinlich genau jeden hoffnungsvollen Aufschwung, lebte ständig in Angst vor dem Zusammenbruch.
Die freieste Stunde ihres Tages kam nach dem Frühstück. Jeden Morgen verschwand Alfred, sobald er seine Tasse heißes Milchwasser ausgetrunken hatte, im Keller und widmete sich seinem Stuhlgang. Enids Zuspruch war in dieser Stoßstunde seiner Not nicht erwünscht, aber sie konnte ihn auch getrost sich selbst überlassen. Seine Darmfixierung war ein Irrsinn, aber nicht die Art von Irrsinn, die seine Teilnahme an den Korrektal-Tests gefährdete.
Draußen vor dem Küchenfenster schwebten Schneeflocken aus einem schaurig blau bewölkten Himmel durch die Zweige des kümmerlichen Hartriegels, der (so alt war er also) einst von Chuck Meisner gepflanzt worden war. Enid knetete und formte einen falschen Hasen, stellte ihn in den Kühlschrank, um ihn später zu braten, und fabrizierte einen Zitronenwackelpudding mit Bananen, hellen Weintrauben, Dosenananas und Marshmallows. Beides gehörte, neben zweimal gebackenen Kartoffeln, zu Jonahs offiziellen St.-Jude-Leibgerichten und stand für heute Abend auf dem Speiseplan.
Monatelang hatte sie sich vorgestellt, wie Jonah am Morgen des Vierundzwanzigsten das Christkind an den Adventskalender heften würde.
Von ihrer zweiten Tasse Kaffee beflügelt, ging sie nach oben und kniete sich neben Garys alte Kirschbaumholz-Kommode, in der sie Geschenke und Mitbringsel aufbewahrte. Seit Wochen war sie mit ihren Weihnachtseinkäufen fertig, doch das Einzige, was sie für Chip erstanden hatte, war ein stark herabgesetzter braun-roter Wollbademantel der Marke Pendleton. Chip hatte sich ihren guten Willen eigentlich verscherzt, als er ihr, ein paar Jahre zuvor, ein gebraucht wirkendes Kochbuch zu Weihnachten geschenkt hatte, Die marokkanische Küche, in Aluminiumfolie gewickelt und mit Aufklebern verziert, auf denen rot durchgestrichene Kleiderbügel abgebildet waren. Jetzt aber, wo er extra aus Litauen nach Hause zurückkehrte, wollte sie ihn belohnen, indem sie ihr Geschenke-Budget voll ausschöpfte. Das folgendermaßen aussah:
Alfred: kein fester Betrag
Chip, Denise: jeweils $ 100 plus Grapefruit
Gary, Caroline: jeweils $ 60 höchstens plus Grapefruit
Aaron, Caleb: jeweils $ 30 höchstens
Jonah (nur dieses Jahr): kein fester Betrag
Da der Bademantel $ 55 gekostet hatte, brauchte sie für Chip noch weitere Geschenke im Wert von $ 45. Sie wühlte in den Kommodenschubladen. Sie verwarf die Vasen aus Hongkong in ihren angestaubten Schachteln, die vielen Bridgekarten und — blöcke, die vielen mit schönen Motiven bedruckten Papierservietten, die ebenso hübschen wie entbehrlichen Kugelschreiber- und-Bleistift-Sets, die vielen Reisewecker, die sich auf besondere Art zusammenklappen ließen oder einen besonderen Weckton hatten, den Schuhlöffel mit Teleskopgriff, die unerklärlich stumpfen koreanischen Steakmesser, die bronzenen Untersetzer mit Korkböden und Lokomotivengravur, den 10 x 15-Bilderrahmen aus Keramik, auf dem in lavendelfarbener, lasierter Schrift das Wort «Erinnerungen» stand, die kleinen Onyx-Schildkröten aus Mexiko und die raffiniert verpackte Schleifen- und Geschenkpapierschachtel mit dem schönen Namen «Die Gabe des Schenkens». Sie überlegte, ob sich die zinnerne Dochtschere und der Salzstreuer-Pfeffermühlen-Ständer eignen würden. Chips spärliche Wohnungseinrichtung vor Augen, kam sie zu dem Ergebnis, dass die Dochtschere und der Salzstreuer-Pfeffermühlen-Ständer genau das Richtige seien.
In der Jahreszeit der Freude und Wunder, während sie die Geschenke einpackte, vergaß sie das nach Urin riechende Labor und die widerwärtigen Grillen. Sie konnte darüber hinwegsehen, dass Alfred den Weihnachtsbaum mit einer zwanzigprozentigen Neigung aufgestellt hatte. Es gelang ihr zu glauben, dass Jonah sich heute Morgen genauso gesund fühlte wie sie.
Als sie mit dem Einpacken fertig war, hatte das Licht am winterlichen Möwenfedernhimmel einen mittäglichen Einfallswinkel und Helligkeitsgrad. Sie ging in den Keller, wo sie die Tischtennisplatte, wie ein mit Hopfen zugewuchertes Chassis, unter grünen Lichterketten begraben fand und Alfred mit Isolierband, Schere und Verlängerungskabeln auf dem Boden.
«Diese verdammten Lichter!», sagte er.
«Was machst du denn da auf dem Boden, Al?»
«Diese verdammten, billigen neuen Lichter!»
«Reg dich doch nicht so auf, Al. Lass gut sein. Das können Gary und Jonah machen. Komm nach oben, das Essen ist fertig.»
Das Flugzeug aus Philadelphia sollte um halb zwei landen.
Gary hatte gesagt, er werde sich ein Auto mieten und gegen drei Uhr da sein, und Enid wollte, dass Alfred vorher schlief, denn heute Nacht würde sie Verstärkung haben. Wenn er heute Nacht aufstand und herumirrte, war sie nicht als Einzige im Dienst.
Nach dem Essen war die Stille im Haus von einer solchen Dichte, dass beinahe die Uhren stehen blieben. Die letzten Stunden des Wartens wären perfekt geeignet gewesen, noch ein paar Weihnachtskarten zu schreiben, eine Zwei-Fliegen-mit-einer-Klappe-Situation, in der die Minuten nicht nur wie im Flug vergangen wären, sondern Enid auch eine Menge Arbeit hätte erledigen können; doch die Zeit ließ sich so nicht überlisten. Als Enid mit einem Kurzgruß begann, war es, als zöge sie ihren Stift durch Melasse. Sie verlor den Faden ihrer Wörter, schrieb nahm ein unerwartetes «Bad» in einem unerwarteten «Bad» und musste die Karte wegwerfen. Sie ging in die Küche, um auf die Uhr zu sehen, und stellte fest, dass erst fünf Minuten verstrichen waren, seit sie zuletzt nachgeschaut hatte. Sie arrangierte eine Auswahl von Plätzchen auf einem lackierten hölzernen Weihnachtsteller. Legte ein Messer und eine riesengroße Birne auf ein Schneidebrett. Schüttelte einen Karton Eierflip. Belud die Kaffeemaschine, für den Fall, dass Gary Kaffee trinken wollte. Dann setzte sie sich wieder hin, um einen Kurzgruß zu schreiben, und sah in dem leeren Weiß der Karte ihre Gedanken gespiegelt. Sie trat ans Fenster und blickte auf den bleichen Zoysia-Rasen. Der Briefträger, mit weihnachtlichen Volumen kämpfend, kam den Weg herauf, einen dicken Packen im Arm, den er in drei Stößen durch den Schlitz schob. Sie stürzte sich auf die Post und trennte Spreu von Weizen, doch um die Briefe zu öffnen, war sie zu nervös. Sie ging zum blauen Sessel hinunter.
«Al», rief sie, «ich glaube, du musst aufstehen!»