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Nach dem Abendessen holte er den Olds aus der Garage, und zu dritt machten sie sich auf den Weg ins Weihnachtsland.

Vom Rücksitz aus konnte Enid die Unterseite der Wolken städtisches Licht einfangen sehen; die wolkenlosen Stellen am Himmel waren dunkler und mit Sternen durchsiebt. Gary manövrierte den Wagen durch enge Vorstadtstraßen bis zu den Kalksteintoren des Waindell-Parks, vor denen schon eine stattliche Anzahl Autos, Lieferwagen und Kleinbusse auf Einlass wartete.

«Guckt euch all die Wagen an», sagte Alfred ohne eine Spur seiner früheren Ungeduld.

Mit dem Eintritt, der für das Weihnachtsland verlangt wurde, trug die Kreisverwaltung einen Teil der Kosten dieser alljährlichen Extravaganz. Ein Parkwächter der Kreisverwaltung nahm ihre Tickets entgegen und forderte Gary auf, nur das Standlicht eingeschaltet zu lassen. Der Olds kroch in einer Schlange abgedunkelter Fahrzeuge vorwärts, die, alle zusammen, in ihrer demütigen Prozession durch den Park Tieren niemals ähnlicher gewesen waren als jetzt.

Die meiste Zeit des Jahres war Waindell ein verwahrlostes Gelände mit verbrannten Wiesen, braunen Tümpeln und schmucklosen Kalksteinpavillons. Im Dezember, bei Tag, sah es hier am schlimmsten aus. Dicke Kabel und Starkstromleitungen verliefen kreuz und quer über den Rasenflächen. Die Aufbauten und Gerüste offenbarten sich in ihrer ganzen Zerbrechlichkeit, ihrer Vorläufigkeit, der metallenen Knotigkeit ihrer Gelenke. Hunderte von Bäumen und Sträuchern verschwanden unter Lichterketten, und die Äste hingen durch, als prassele ein eisiger Regen aus Glas und Plastik auf sie nieder.

Am Abend wurde der Park zum Weihnachtsland. Scharf sog Enid die Luft ein, als der Olds im Schneckentempo über einen Lichthügel und durch eine hell erleuchtete Landschaft rollte. So wie die wilden Tiere am Heiligen Abend angeblich zu sprechen begannen, schien die natürliche Ordnung der Vororte hier auf den Kopf gestellt, das normalerweise dunkle Land lebendig vor Licht, die normalerweise lebendige Straße dunkel vor stockendem Verkehr.

Die sanft ansteigenden Hänge und die Vertraulichkeit zwischen ihren Kammlinien und dem Himmel waren typisch mittelwestlich, fand Enid. Genauso wie der Gleichmut und die Geduld der Fahrer; genauso wie die vereinzelten, eng zusammengewachsenen Grenzgemeinschaften der Eichen und Ahornbäume. Die letzten acht Weihnachten hatte sie im Exil, im fremden Osten, verbracht, und nun fühlte sie sich endlich zu Hause. Sie stellte sich vor, in dieser Landschaft begraben zu werden. Sie war glücklich bei dem Gedanken, dass ihre Gebeine einst an einem Hang wie diesem ruhen würden.

Weiter ging's mit funkelnden Pavillons, leuchtenden Rentieren, Riesenanhängern und — halsketten aus gebündelten Photonen, elektropointillistischen Weihnachtsmanngesichtern, einer aus turmhohen, glitzernden Zucker-Spazierstöcken gebildeten Schneise.

«Steckt eine Menge Arbeit drin», bemerkte Alfred.

«Tja, nun tut es mir doch Leid, dass Jonah nicht mitkommen konnte», sagte Gary, als hätte es ihm bislang nicht Leid getan.

Das Schauspiel war nichts anderes als Licht in der Dunkelheit, aber Enid verschlug es die Sprache. So oft wurde einem Gutgläubigkeit abverlangt, so selten konnte man sie aufbringen, doch hier im Waindell-Park schaffte sie es. Irgendjemand hatte sich vorgenommen, alle, die kamen, zu begeistern, und Enid war hell begeistert. Und morgen waren auch Denise und Chip da, morgen würden sie in den Nussknacker gehen, und Mittwoch würden sie das Christkind aus seiner Tasche nehmen und die Walnusswiege an den Filzbaum heften: Es gab so vieles, auf das sie sich freuen konnte.

Am nächsten Morgen fuhr Gary ins benachbarte Hospital City, den stadtnahen Vorort, in dem die großen Kliniken und Ärztehäuser von St. Jude konzentriert waren, und hielt die Luft an zwischen all den Vierzig-Kilo-Männern in Rollstühlen und den Hundertdreißig-Kilo-Frauen in zeltartigen Gewändern, die im Großhandel für Medizin- und Sanitätsbedarf die Gänge verstopften. Gary nahm es seiner Mutter übel, ihn hierher geschickt zu haben, aber er war sich auch bewusst, wie gut er es im Vergleich zu ihr hatte, wie frei und privilegiert er war, und so riss er sich zusammen und hielt größtmöglichen Abstand von den Körpern der Ortsansässigen, die ihre Einkaufswagen mit Spritzen und Gummihandschuhen voll luden, mit Karamell-Betthupferln, mit saugfähiger Watte in allen erdenklichen Formen und Größen, mit 144er-Jumbopackungen Gute-Besserungs-Karten und Flötenmusik-CDs und Videos, die krankengymnastische Übungen veranschaulichten, und Wegwerfschläuchen und Wegwerfplastikbeuteln, die sich mit härteren, in lebendiges Fleisch eingenähten Plastikventilen verbinden ließen.

Garys Problem mit Krankheit, wenn sie gehäuft auftrat — abgesehen von der Tatsache, dass man es dabei mit großen Mengen menschlicher Körper zu tun bekam und ihm menschliche Körper in großen Mengen schlichtweg zuwider waren — , bestand darin, dass sie in seinen Augen ein Phänomen der Unterschicht war. Arme Leute rauchten, arme Leute schlugen sich den Bauch mit Krispy-Creme-Doughnuts voll. Arme Leute wurden von nahen Verwandten geschwängert. Arme Leute wuschen sich nicht genügend und wohnten in verseuchten Stadtteilen. Arme Leute mit ihren Gebrechen bildeten eine Subspezies der Menschheit, die für Gary dankenswerterweise meist unsichtbar blieb, nur nicht in Krankenhäusern und an Orten wie dem Großhandel für Medizin- und Sanitätsbedarf. Sie gehörten zu einer tumberen, traurigeren, fetteren, ergebener leidenden Art. Zu einer kranken Unterschicht, von der er wirklich, wirklich gerne Abstand hielt.

Andererseits war er aus etlichen Gründen, die er Enid verschwiegen hatte, mit einem schlechten Gewissen nach St. Jude gekommen und hatte sich geschworen, drei Tage lang ein guter Sohn zu sein, und so kämpfte er sich, seinem Unbehagen trotzend, durch die Massen der Lahmen und Siechen, betrat die riesige Möbelabteilung des Medizin- und Sanitätsbedarfs und schaute sich nach einem Hocker um, auf dem sein Vater beim Duschen würde sitzen können.

Eine üppig orchestrierte Fassung des fadesten Weihnachtslieds aller Zeiten, «Der kleine Trommler», triefte aus versteckten Lautsprechern. Der Morgen, draußen vor den Spiegelglasfenstern der Möbelabteilung, war strahlend, windig, kalt. Ein Blatt Zeitungspapier wickelte sich in erotisch anmutender Verzweiflung um eine Parkuhr. Markisen quietschten, Schutzbleche zitterten.

Die große Auswahl an medizinischen Hockern und die vielfältigen Leiden, von denen sie zeugten, hätten Gary womöglich aus der Fassung gebracht, wäre er nicht in der Lage gewesen, ästhetische Urteile zu fällen.

Warum beige, fragte er sich zum Beispiel. Medizinisches Plastik war in aller Regel beige; im besten Falle kränklich grau.

Warum nicht rot? Warum nicht schwarz? Warum nicht taubenblau?

Vielleicht sollte das beige Plastik gewährleisten, dass die Möbel einzig und allein zu medizinischen Zwecken verwendet wurden. Vielleicht fürchtete der Hersteller, die Leute könnten die Stühle, wenn sie zu hübsch wären, zu nichtmedizinischen Zwecken kaufen wollen.

Das galt es ja nun wahrlich zu vermeiden: dass ein Produkt zu viele Interessenten fand!

Gary schüttelte den Kopf. Diese schwachsinnigen Hersteller.

Er entschied sich für einen robusten, niedrigen Aluminiumhocker mit breiter beiger Sitzfläche. Er wählte einen massiven (beigen!) Haltegriff für die Dusche. Über die erpresserischen Preise staunend, ging er mit beiden Artikeln zur Kasse, wo eine freundliche junge Mittelwestlerin, wahrscheinlich evangelikal (sie trug einen Pullover mit Brokatmuster und einen fransig geschnittenen Pony), die Strichcodes unter einen Laserstrahl hielt und in einem schleppenden Südstaatendialekt bemerkte, diese Aluminiumhocker seien wirklich ein Spitzenprodukt. «So leicht, und praktisch nicht kaputtzukriegen», sagte sie. «Für Ihre Mom oder für Ihren Dad?»

Gary mochte es überhaupt nicht, wenn jemand in seine Privatsphäre eindrang, und verwehrte der jungen Frau die Genugtuung einer Antwort. Immerhin nickte er.