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«Unsere alten Leutchen werden halt irgendwann 'n bisschen wacklich unter der Dusche. Geht uns sicher allen ma' so.» Die kleine Philosophin zog mit Schwung Garys AmEx durch eine Furche. «Und Sie? Über die Feiertage zu Hause, 'n bisschen aushelfen?»

«Wissen Sie, wozu sich diese Hocker richtig gut eignen würden?», sagte Gary. «Um sich aufzuhängen. Meinen Sie nicht?»

Das Leben wich aus dem Lächeln der jungen Frau. «Weiß nich.»

«Wiegt ja nichts — schön leicht wegzutreten.»

«Hier unterschreiben bitte, Sir.»

Er musste gegen den Wind ankämpfen, um die Ausgangstür aufzustoßen. Der Wind hatte Zähne heute, biss ihm durch die Kalbslederjacke ins Fleisch. Es war ein Wind, der von keinerlei nennenswerten Hindernissen zwischen der Arktis und St. Jude gebremst wurde.

Während Gary Richtung Norden zum Flughafen fuhr, die tief stehende Sonne gnädigerweise im Rücken, fragte er sich, ob er grausam zu der jungen Frau gewesen war. Vermutlich. Aber er stand unter Druck, und er fand, ein Mensch, der unter Druck stand, hatte das Recht, in den Grenzen, die er sich selbst gezogen hatte, streng zu sein — streng in seiner moralischen Buchführung, streng in der Frage, was er zu tun und zu lassen gedachte, streng in der Frage, wer er war und wer er nicht war und mit wem er sprechen wollte und mit wem nicht. Wenn irgendeine aufdringliche evangelikale Landpomeranze unbedingt mit ihm reden wollte, oblag die Wahl des Themas ihm.

Allerdings war ihm bewusst, dass er, hätte die Frau hübscher ausgesehen, weniger grausam gewesen wäre.

Alles in St. Jude strebte danach, ihn ins Unrecht zu setzen. Doch in den Monaten seit seiner Kapitulation vor Caroline (und seine Hand war gut verheilt, danke der Nachfrage, man sah die Narbe kaum) hatte er sich damit abgefunden, in St. Jude der Bösewicht zu sein. Wer von vornherein wusste, dass er für die eigene Mutter, egal, was er tat, der Bösewicht war, für den gab es keinen Anreiz mehr, sich an ihre Regeln zu halten. Er stellte seine eigenen Regeln auf. Tat, was getan werden musste, um seine Haut zu retten. Behauptete, wenn nötig, dass ein völlig gesundes Kind krank war.

In Wahrheit hatte Jonah selbst entschieden, nicht mit nach St. Jude zu fahren. Das stimmte mit den Bedingungen von Garys Kapitulation im Oktober überein. Fünf Flugtickets in der Hand, für die es keine Rückerstattung gab, hatte Gary seiner Familie mitgeteilt, er wünsche sich sehr, dass alle ihn über Weihnachten nach St. Jude begleiten würden, aber niemand werde zum Mitfahren gezwungen. Caroline, Aaron und Caleb sagten unverzüglich und laut nein danke; Jonah dagegen, noch im Bann des großmütterlichen Enthusiasmus, verkündete, er fahre «sehr gern» mit. Gary hatte Enid nie ausdrücklich versprochen, dass Jonah ihn begleiten werde, sie aber auch nie gewarnt, dass es vielleicht anders kommen könnte.

Im November kaufte Caroline vier Karten für einen Auftritt des Zauberers Alain Gregarius am 22. Dezember und weitere vier Karten für den König der Löwen am 23. Dezember in New York. «Wenn Jonah hier bleibt, kann er mit», erklärte sie, «sonst kriegt ein Freund von Aaron oder Caleb seine Karte.» Gary hätte sie gern gefragt, warum sie nicht, um Jonah eine schwierige Entscheidung zu ersparen, Karten für die Woche nach Weihnachten gekauft hatte. Doch seit seiner Oktober-Kapitulation erlebten er und Caroline ihre zweiten Flitterwochen, und obwohl sie sich einig waren, dass Gary als gehorsamer Sohn für drei Tage nach St. Jude fahren würde, fiel ein Schatten auf sein häusliches Glück, wann immer er von seiner Reise sprach. Je mehr Tage vergingen, ohne dass von Enid oder Weihnachten die Rede war, desto mehr schien Caroline ihn zu begehren, desto mehr bezog sie ihn in ihre Witzeleien mit Aaron und Caleb ein und desto weniger deprimiert fühlte er sich. Überhaupt waren sie auf das Thema seiner Depression seit dem Morgen von Alfreds Unfall kein einziges Mal zurückgekommen. Das Thema Weihnachten ruhen zu lassen schien ihm ein kleiner Preis für so viel häusliche Harmonie.

Eine Zeit lang sah es so aus, als übten die Extras und die Aufmerksamkeit, die Enid Jonah versprochen hatte, größere Anziehungskraft auf ihn aus als Alain Gregarius und der König der Löwen. Beim Abendessen dachte Jonah laut über das Weihnachtsland und den Adventskalender nach, von dem Grandma so oft erzählte; er ging darüber hinweg — oder bemerkte es tatsächlich nicht — , wie Caleb und Aaron sich zublinzelten und grinsten. Caroline aber ermunterte die älteren Jungen immer unverhohlener, über ihre Großeltern herzuziehen und Anekdoten über Alfreds Ahnungslosigkeit («Er hat Intendo gesagt!») und Enids Prüderie («Sie wollte wissen, welche Altersbeschränkung die Zauberer-Show hat!») und Enids Sparsamkeit («Zwei Bohnen waren noch übrig, und sie hat sie in Folie gewickelt!») zum Besten zu geben, und da auch Gary, seit seiner Kapitulation, meistens in das Gelächter einstimmte («Grandma ist komisch, oder?»), fing Jonah schließlich an zu schwanken. Im zarten Alter von acht Jahren geriet er unter den Einfluss des Tyrannen Cool. Zuerst hörte er auf, beim Abendessen von Weihnachten zu sprechen, und als Caleb ihn etwas später in seinem typischen, halb ironischen Tonfall fragte, ob er sich schon auf das Weihnachtsland freue, erwiderte Jonah mit bemüht garstiger Stimme: «Bestimmt ist es total blöd.»

«Jede Menge Fettwänste, die in großen Autos im Dunkeln rumfahren», sagte Aaron.

«Und sich gegenseitig erzählen, wie härrrlich das ist», sagte Caroline.

«Härrrlich, härrrlich», sagte Caleb.

«Ihr sollt euch nicht über eure Großmutter lustig machen», sagte Gary.

«Sie machen sich ja nicht über sie lustig», sagte Caroline.

«Genau», sagte Caleb. «Die Leute sind bloß so komisch in St. Jude. Stimmt's, Jonah?»

«Auf alle Fälle sind die Leute da ziemlich dick», sagte Jonah.

Am Samstag, drei Tage vor Garys Abreise, musste sich Jonah nach dem Abendessen übergeben und legte sich mit leichtem Fieber ins Bett. Am Sonntagabend waren seine Gesichtsfarbe und sein Appetit schon wieder normal, und Caroline spielte ihren letzten Trumpf aus. Sie hatte Aaron zum Geburtstag ein teures Computerspiel, Gottesprojekt II, geschenkt, in dem die Spieler Organismen erschaffen und sie in einem funktionierenden Ökosystem miteinander konkurrieren lassen mussten. Aber sie hatte Aaron und Caleb nicht erlaubt, damit loszulegen, bevor die Ferien anfingen, und nun, da es endlich so weit war, bestand sie darauf, dass Jonah «die Mikroben» sein dürfe, weil die Mikroben es in jedem Ökosystem am besten hatten und nie verloren.

Kurz vorm Schlafengehen stand Jonah bereits im Bann seines Killerbakterienteams und freute sich darauf, es am nächsten Tag erneut in den Kampf zu schicken. Als Gary ihn am Montagmorgen weckte und fragte, ob er mit nach St. Jude kommen werde, antwortete Jonah, er bleibe lieber zu Hause.

«Es ist deine Entscheidung», sagte Gary. «Aber wenn du mitkämst, würde das deiner Großmutter sehr viel bedeuten.»

«Und was ist, wenn ich mich da langweile?»

«Eine Garantie, dass man sich irgendwo nicht langweilt, kann einem keiner geben», sagte Gary. «Aber du würdest deine Großmutter glücklich machen. So viel zumindest garantiere ich dir.»

Jonahs Gesicht umwölkte sich. «Kann ich's mir noch eine Stunde überlegen?»

«Na schön, eine Stunde. Aber dann müssen wir packen und aus dem Haus.»

Nach Ablauf einer Stunde war Jonah ganz in das Gottesprojekt II vertieft. Eine seiner Bakterienarten hatte achtzig Prozent von Aarons kleinen behuften Säugetieren das Augenlicht geraubt.

«Es ist in Ordnung, wenn du nicht mitfährst», versicherte Caroline Jonah. «Was zählt, ist, dass du selbst entscheidest. Es sind deine Ferien.»

Niemand wird zum Mitfahren gezwungen.

«Ich sag's ein letztes Mal», sagte Gary. «Grandma freut sich wirklich sehr auf dich.»

Da zeigte sich Gram auf Carolines Gesicht, ein tränenschweres Starren, was Erinnerungen an die harten Septemberzeiten wachrief. Sie stand wortlos auf und ging aus dem Zimmer.