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Jonah antwortete mit einer Stimme, die nicht viel lauter als ein Flüstern war: «Ich glaube, ich bleibe hier.»

Wäre noch September gewesen, hätte Gary in Jonahs Entscheidung vielleicht ein Sinnbild für die allgemeine Krise des Pflichtbewusstseins in einer einseitig verbraucherorientierten Kultur gesehen. Er wäre vielleicht depressiv geworden. Doch diesen Weg war er bereits gegangen, und er wusste, dass ihn an dessen Ende nichts erwartete.

Er packte seine Sachen und küsste Caroline. «Schön, dass du bald wieder da bist», sagte sie.

Streng moralisch betrachtet, das wusste Gary, brauchte er sich nichts vorzuwerfen. Er hatte Enid ne versprochen, dass Jonah mitkommen würde. Und auf die Fieberlüge war er nur verfallen, weil er eine Auseinandersetzung vermeiden wollte.

Aus einem ähnlichen Grund, nämlich um ihre Gefühle zu schonen, hatte er Enid verschwiegen, dass seine fünftausend Axon-Aktien, für die er $ 60.000 gezahlt hatte, in den sechs Geschäftstagen seit dem Börsengang im Wert auf $ 118.000 gestiegen waren. Auch in diesem Fall brauchte er sich nichts vorzuwerfen, aber wegen des erbärmlichen Honorars, mit dem Axon Alfred abgespeist hatte, schien ihm Geheimhaltung die klügste Politik zu sein.

Dasselbe galt für das kleine Päckchen, das Gary in der Innentasche seiner Jacke hatte verschwinden lassen.

Jets sanken vom strahlend hellen Himmel, glücklich in ihrer metallenen Haut, während er den Olds durch den dichten Seniorenverkehr am Flughafen manövrierte. Die Tage vor Weihnachten waren die Sternstunde des Flughafens von St. Jude — seine Raison d'etre beinahe. Jedes Parkhaus war voll und jedes Laufband verstopft.

Denise landete trotzdem auf die Minute pünktlich. Sogar die Fluggesellschaften taten das Ihre, um ihr die Peinlichkeit einer Verspätung oder eines inkommodierten Bruders zu ersparen. Nach familiärem Brauch stand sie an einem weniger überlaufenen Gate auf der Abflugebene. Ihr Mantel war eine verrückte granatrote Wollangelegenheit mit rosa Samtbesatz, und irgendetwas an ihrem Kopf schien Gary verändert — mehr Make-up als sonst vielleicht. Mehr Lippenstift. Jedes Mal wenn er Denise im vergangenen Jahr begegnet war (zuletzt an Thanksgiving), hatte sie deutlich weniger so ausgesehen, wie er sie sich früher als Erwachsene immer vorgestellt hatte.

Als er sie küsste, roch er Zigarettenrauch.

«Du rauchst ja», sagte er, während er im Kofferraum Platz für ihren Koffer und ihre Einkaufstüte machte.

Denise lächelte. «Schließ endlich auf. Ich erfriere.»

Gary klappte seine Sonnenbrille auseinander. Richtung Süden direkt ins Grelle fahrend, wurde er beim Einordnen fast abgedrängt. Selbst auf den Straßen von St. Jude nahm die Aggressivität zu; der Verkehr kroch auch hier inzwischen nicht mehr so, dass ein Ostküstler sich munter überall hindurchschlängeln konnte.

«Mom ist bestimmt selig, dass Jonah da ist», sagte Denise.

«Offen gestanden — Jonah ist nicht da.»

Sie wandte scharf den Kopf. «Du hast ihn nicht mitgebracht?»

«Er ist krank geworden.»

«Das kann nicht dein Ernst sein. Du hast ihn nicht mitgebracht!»

Sie schien nicht für einen Augenblick in Betracht zu ziehen, dass er die Wahrheit sagen könnte.

«In meinem Haushalt leben fünf Personen», sagte Gary. «Soweit ich weiß, lebt in deinem nur eine. Die Dinge werden komplizierter, je mehr Rücksichten man zu nehmen hat.»

«Ich finde es bloß schade, dass du Mom erst Hoffnungen machen musstest.»

«Ich kann nichts dafür, wenn sie unbedingt in der Zukunft leben will.»

«Da hast du Recht», sagte Denise. «Dafür kannst du nichts. Hätte mich nur gefreut, wenn es anders gekommen wäre.»

«Wo wir gerade von Mom sprechen», sagte Gary, «ich muss dir etwas sehr Merkwürdiges erzählen. Aber bitte versprich mir, dass du ihr nichts davon sagst.»

«Etwas Merkwürdiges?»

«Versprich mir, dass du's für dich behältst.»

Denise versprach es, und Gary zog den Reißverschluss seiner Jackeninnentasche auf und zeigte ihr das Päckchen, das Bea Meisner ihm tags zuvor gegeben hatte. Das Ganze war völlig bizarr gewesen: am Straßenrand Chuck Meisners Jaguar, im Leerlauf, inmitten von Walfontänen winterlicher Auspuffgase, auf der Herzlich-willkommen-Matte Bea Meisner in ihrem bestickten grünen Lodenmantel, die aus ihrer Handtasche ein ramponiertes und abgegriffenes kleines Paket hervorkramte, und im Türrahmen Gary, der die eingewickelte Sektflasche abstellte und die Lieferung der Konterbande entgegennahm. «Das ist für deine Mutter», hatte Bea gesagt. «Aber sag ihr, dass Klaus gemeint hat, man muss sehr vorsichtig damit sein. Er wollte es mir erst gar nicht geben. Er hat gesagt, es kann sehr, sehr süchtig machen, deshalb habe ich auch nur so wenig davon mitgebracht.

Deine Mutter hatte von sechs Monaten gesprochen, aber Klaus hat mir nur was für einen gegeben. Also sag ihr, sie muss auf jeden Fall erst mit ihrem Arzt sprechen. Vielleicht solltest du es sogar bei dir behalten, Gary, bis sie das getan hat. Na ja, wie auch immer, fröhliche Weihnachten» — hier hupte der Jaguar — «und die besten Grüße an alle.»

Noch während Gary erzählte, öffnete Denise das Päckchen. Bea hatte ein Blatt aus einer deutschsprachigen Zeitschrift gefaltet und mit Tesafilm zugeklebt. Auf der einen Seite war eine bebrillte deutsche Kuh zu sehen, die Werbung für H-Milch machte. Innen drin befanden sich dreißig goldene Pillen.

«Mein Gott.» Denise lachte. «Mexican A.»

«Noch nie gehört», sagte Gary.

«Club-Droge. Nehmen junge Leute gern.»

«Und Bea Meisner bringt sie Mom einfach so zu Hause vorbei.»

«Weiß Mom, dass du sie hast?»

«Noch nicht. Ich hab ja nicht mal eine Ahnung, was das Zeug bewirkt.»

Mit ihren rauchigen Fingern hielt Denise eine Pille ganz nah an seinen Mund. «Probier mal eine.»

Gary zog ruckartig den Kopf weg. Seine Schwester schien selbst unter irgendeiner Droge zu stehen, irgendetwas Stärkerem als Nikotin. Sie war sagenhaft glücklich oder sagenhaft unglücklich oder auf irgendeine gefährliche Weise beides zugleich. An drei Fingern und einem Daumen trug sie silberne Ringe.

«Hast du die Dinger mal probiert?», fragte er.

«Nein, ich bleibe beim Alkohol.»

Sie faltete das Päckchen zusammen, und Gary nahm es wieder an sich. «Ich möchte sicher sein, dass wir am selben Strang ziehen», sagte er. «Bist auch du der Meinung, dass Mom keine illegalen Suchtmittel von Bea Meisner bekommen sollte?»

«Nein», sagte Denise. «Der Meinung bin ich nicht. Sie ist erwachsen und kann machen, was sie will. Und ich finde es nicht in Ordnung, dass du ohne ihr Wissen die Pillen einsteckst. Wenn du es ihr nicht sagst, tue ich's.»

«Entschuldige, aber ich glaube, du hast mir eben versprochen, es für dich zu behalten», sagte Gary.

Denise überlegte. Salzbespritzte Bordsteine flogen vorbei.

«Na schön, vielleicht habe ich das versprochen», sagte sie. «Aber wieso maßt du dir an, ihr Leben in die Hand zu nehmen?»

«Du wirst schon sehen», sagte er. «Die Situation ist außer Kontrolle. Höchste Zeit, dass jemand kommt und Moms Leben in die Hand nimmt.»

Denise widersprach ihm nicht. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und betrachtete die Hochhäuser von Hospital City am unbarmherzigen südlichen Horizont. Gary hatte gehofft, sie würde sich kooperativer zeigen. Er hatte bereits einen «alternativen» Bruder und brauchte von der Sorte nicht auch noch eine Schwester. Es verdross ihn, dass manche so umstandslos aus der Welt der konventionellen Erwartungen aussteigen konnten; all die Freude, die er aus seinem Zuhause und seiner Arbeit und seiner Familie zog, wurde dadurch unterhöhlt; es war, als würde das Regelwerk des Lebens einseitig, und zwar zu seinem Nachteil, neu geschrieben. Besonders ärgerte ihn, dass der jüngste Überläufer zum Lager der «Alternativen» nicht irgendein spleeniger anderer aus einer Familie von anderen oder einer Schicht von anderen war, sondern seine elegante und begabte Schwester, die noch im September auf so konventionelle Weise reüssiert hatte, dass seine Freunde in der New York Times davon hatten lesen können. Jetzt war sie ihren Job los, trug vier Fingerringe und einen flammend roten Mantel und stank nach Tabak…