Unterdessen hatten ihre Brüder es darauf angelegt, gerade dann nicht verfügbar zu sein. Chip war in Osteuropa untergetaucht, und Gary ließ sich von Caroline am Gängelband führen. Sicher, Gary «übernahm Verantwortung» für seine Eltern, doch für ihn hieß Verantwortung übernehmen so viel wie einschüchtern und herumkommandieren. Die Aufgabe, Enid und Alfred zuzuhören und geduldig und verständnisvoll zu sein, lastete allein auf den Schultern der Tochter. Denise sah sich schon als das einzige Kind beim Weihnachtsessen in St. Jude, und auch als das einzige Kind, das in den Wochen und Monaten und Jahren danach zur Stelle wäre. Taktvoll, wie ihre Eltern waren, baten sie sie nicht, bei ihnen einzuziehen, aber Denise wusste, dass sie es sich wünschten. Seit sie ihren Vater für die Testphase zwei von Korrektal angemeldet und ihn eingeladen hatte, bei ihr zu wohnen, war Enid ihr gegenüber lammfromm geworden. Nie wieder hatte sie ihre ehebrecherische Freundin Norma Greene erwähnt. Nie hatte sie Denise gefragt, warum sie ihren Job beim Generator «aufgegeben» habe. Enid war in Schwierigkeiten, ihre Tochter erbot sich, ihr zu helfen, da konnte sie sich den Luxus, an ihr herumzunörgeln, nicht länger leisten. Und nun war, jedenfalls in der Geschichte, die Denise sich über sich selbst erzählte, die Zeit gekommen, da die Meisterköchin sich mit dem Tranchiermesser zerteilen und die Stücke an ihre hungrigen Eltern verfüttern musste.
In Ermangelung einer besseren Geschichte glaubte sie diese beinahe. Der einzige Haken daran war, dass sie sich darin nicht wieder erkannte.
Wenn sie eine weiße Bluse, einen gediegenen grauen Hosenanzug, roten Lippenstift und eine schwarze Pillbox mit kleinem schwarzem Schleier trug, dann erkannte sie sich wieder. Wenn sie ein ärmelloses weißes T-Shirt und Jeans anzog und ihr Haar so straff zu einem Pferdeschwanz zurückband, dass ihr der Kopf wehtat, erkannte sie sich wieder. Wenn sie Silberschmuck, türkisen Lidschatten, Leichenlippen-Nagellack, einen schreiend pinkfarbenen Pullover und orange Turnschuhe trug, erkannte sie sich als einen lebendigen Menschen wieder und war atemlos vor Glück, so lebendig zu sein.
Sie fuhr nach New York, um im Food Channel aufzutreten, und besuchte am Abend einen jener Clubs für Leute wie sie, die gerade erst anfingen, klar zu sehen, aber noch üben mussten. Sie wohnte bei Julia Vrais in deren umwerfendem Apartment an der Hudson Street. Julia berichtete, sie habe während ihres Scheidungsverfahrens, bei der Offenlegung wichtiger Dokumente, erfahren, dass Gitanas Misevicius das Apartment mit Geldern der litauischen Regierung bezahlt habe.
«Gitanas' Anwälte behaupten, das sei keine Unterschlagung, sondern ein ‹Versehen› gewesen», erzählte Julia Denise, «aber es fällt mir schwer, das zu glauben.»
«Heißt das, man wird dir das Apartment wegnehmen?»
«Nein», sagte Julia, «es erhöht sogar die Wahrscheinlichkeit, dass ich es einfach so behalten darf. Trotzdem, das ist doch schrecklich! Meine Wohnung gehört nach Recht und Gesetz dem litauischen Volk!»
Im Gästezimmer waren es dreißig Grad. Julia holte eine dicke Daunendecke und fragte Denise, ob sie noch eine Wolldecke haben wolle.
«Danke, das reicht völlig», sagte Denise.
Julia gab ihr ein Flanelllaken und vier Kissen mit Flanellbezügen. Sie fragte, wie es Chip in Vilnius gehe.
«Es klingt, als wären er und Gitanas die besten Freunde.»
«Ich möchte nicht wissen, was die beiden über mich reden», sagte Julia versonnen.
Sie halte es für wahrscheinlicher, sagte Denise, dass Chip und Gitanas das Thema ganz und gar meiden würden.
Julia runzelte die Stirn. «Warum sollten sie nicht über mich reden?»
«Na ja, immerhin hast du sie beide ziemlich böse abblitzen lassen.»
«Aber sie könnten sich doch darüber austauschen, wie sehr sie mich hassen!»
«Ich glaube nicht, dass dich jemand hassen kann.»
«Ehrlich gesagt, hatte ich Angst, du könntest mich hassen, weil ich mich von Chip getrennt habe.»
«Nein, da war ich ganz leidenschaftslos.»
Offensichtlich erleichtert, das zu hören, vertraute Julia Denise an, dass sie jetzt öfter mit einem netten, wenn auch kahlköpfigen Rechtsanwalt ausgehe, den sie über Eden Procuro kennen gelernt habe. «Ich fühle mich geborgen bei ihm», sagte sie. «Er hat so ein selbstsicheres Auftreten in Restaurants. Und er hat unheimlich viel zu tun, sodass er nicht ständig, wie soll ich sagen, hinter mir her ist.»
«Weißt du», sagte Denise, «je weniger du mir von Chip und dir erzählst, desto besser.»
Als Julia sie dann fragte, ob eigentlich auch sie mit jemandem zusammen sei, hätte es nicht so schwer sein müssen, ihr von Robin Passafaro zu erzählen, aber es war schwer. Denise wollte ihre Freundin nicht in Verlegenheit bringen, wollte ihre Stimme nicht vor lauter Mitgefühl klein und weich werden hören. Sie wollte Julias Gesellschaft in all ihrer gewohnten Unschuld in sich aufsaugen, und deshalb sagte sie: «Ich bin mit niemandem zusammen.»
Mit niemandem außer, in der nächsten Nacht, in einer sapphischen Paschahöhle zweihundert Schritte von Julias Apartment entfernt, einer Siebzehnjährigen, die gerade im Bus aus Pittsburgh, New York, gestiegen war und eine irrwitzige Frisur und jeweils 800 Punkte in ihren zwei kürzlich abgelegten College-Eignungstests hatte (den offiziellen Ausdruck ihrer Ergebnisse trug sie mit sich herum wie eine Bescheinigung ihrer Zu- oder auch Unzurechnungsfähigkeit), sowie in der übernächsten Nacht, mit einer Studentin der Religionswissenschaft von der Columbia-Universität, deren Vater (behauptete sie jedenfalls) die größte Samenbank in Südkalifornien betrieb.
Als das geschafft war, begab sich Denise in ein Midtown- Studio und ließ dort ihren Gastauftritt in der Sendung Pop-Food für Leute von heute aufzeichnen, bei dem sie Lammfleisch-Ravioli und andere Märe-Scuro-Gerichte zubereitete. Sie traf sich mit einigen der New Yorker, die versucht hatten, sie Brian abspenstig zu machen — einem Billionärsehepaar aus der Central Park West Avenue, das sich ein Lehnsverhältnis mit ihr vorstellte, einem Münchner Bankier, der glaubte, sie sei der Weißwurst-Messias und könne die deutsche Küche in Manhattan zu ihrem einstigen Ruhm zurückführen, und einem jungen Gastronomen, Nick Razza, der ihr imponierte, indem er alle Gerichte, die er im Mare Scuro und im Generator gegessen hatte, der Reihe nach aufzählte und bis auf die letzte Zutat auseinander nahm. Razza stammte aus einer Lieferantenfamilie in New Jersey und hatte bereits ein beliebtes Fischrestaurant in der Upper East Side. Nun wollte er den Sprung in die kulinarische Szene der Smith Street in Brooklyn wagen und dort ein weiteres Lokal eröffnen, wenn möglich mit Denise in der Hauptrolle. Denise bat ihn um eine Woche Bedenkzeit. An einem sonnigen Herbstsonntag fuhr sie am Nachmittag mit der U-Bahn hinaus nach Brooklyn, das ihr wie ein besseres Philadelphia vorkam, gerettet durch die Nähe zu Manhattan. In einer halben Stunde sah sie hier mehr schöne, interessante Frauen als bei sich zu Hause in einem halben Jahr. Sah deren Brownstones und deren schicke Stiefel.
Auf der Rückfahrt, per Amtrak, fragte sie sich wehmütig, warum sie sich so lange in Philadelphia verkrochen hatte. Der kleine U-Bahnhof unterhalb des Rathauses war leer und widerhallend wie ein eingemottetes Schlachtschiff; Fußboden und Wände und Holzbalken und Geländer, alles war grau gestrichen. Herzzerreißend der kleine Zug, der schließlich, nach fünfzehn Minuten, mit Passagieren, die in ihrer Geduld und Vereinzelung weniger Pendlern als Patienten in der Notaufnahme glichen, am Bahnsteig hielt. Aus dem Schacht des Federal-Street-Bahnhofs auftauchend, fand sich Denise zwischen Platanenblättern und zerrissenen Hamburger-Schachteln wieder, die in Wellen über den Bürgersteig der Broad Street fegten und gegen die bepinkelten Fassaden und vernagelten Fenster wirbelten und am Ende, zwischen den am Straßenrand parkenden Autos mit ihren Epoxydharz-Kotflügeln, liegen blieben. Die urbane Leere Philadelphias, die Hegemonie von Wind und Himmel kamen ihr wie verzaubert vor. Narnisch. Sie liebte Philadelphia, wie sie Robin Passafaro liebte: Das Herz ging ihr über, und ihre Sinne waren geschärft, doch ihr Kopf fühlte sich an, als müsse er im Vakuum ihrer Einsamkeit jeden Moment zerspringen.