Sie öffnete die Tür zu ihrem Backsteingefängnis und sammelte die Post vom Boden auf. Unter den zwanzig Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter war auch eine von Robin Passafaro, die das Schweigen brach und fragte, ob Denise nicht Lust habe, «ein bisschen zu plaudern», außerdem eine von Emile Berger, der sie höflich informierte, dass er Brian Callahans Angebot, Küchenchef vom Generator zu werden, angenommen habe und wieder nach Philadelphia ziehe.
Als sie das hörte, trat Denise mit dem Fuß gegen die gekachelte Südwand ihrer Küche, bis sie fürchtete, sich den großen Zeh gebrochen zu haben. «Ich muss hier weg!», sagte sie.
Doch wegzukommen war gar nicht so einfach. Robin hatte einen Monat Zeit gehabt, sich zu beruhigen und sich darüber klar zu werden, dass sie sich, wenn es denn eine Sünde war, mit Brian zu schlafen, selbst genauso schuldig gemacht hatte wie Denise. Brian hatte sich ein Loft in Olde City gemietet, und Robin war, wie von Denise vorausgesehen, fest entschlossen, das Sorgerecht für Sinead und Erin zu erhalten. Um ihre Position zu stärken, rührte sie sich nicht aus dem großen Haus in der Panama Street und widmete sich noch einmal ganz dem Muttersein. Tagsüber jedoch, wenn die Mädchen in der Schule waren, und an den Samstagen, wenn Brian etwas mit ihnen unternahm, hatte sie Zeit für sich, und nach reiflicher Überlegung entschied sie, dass diese Zeit sich am besten im Bett von Denise verbringen lasse.
Denise schaffte es noch immer nicht, zur Robin-Droge nein zu sagen. Sie sehnte sich noch immer nach Robins Händen auf ihr und an ihr und unter ihr und in ihr, jenem präpositionalen Smörgåsbord. Aber irgendetwas an Robin — vielleicht ihre Neigung, sich selbst für das, was andere ihr antaten, die Schuld zu geben — forderte zu Betrug und Kränkung geradezu heraus. Denise rauchte gegen ihre sonstige Gewohnheit neuerdings im Bett, weil Zigarettenqualm Robins Augen reizte. Sie warf sich in Schale, wenn sie mit Robin zum Mittagessen verabredet war, sie tat ihr Bestes, um Robins Uneleganz herauszustreichen, und erwiderte die Blicke jedes Mannes und jeder Frau, die sich nach ihr umdrehten. War Robins Stimme zu laut, zuckte sie sichtbar zusammen. Sie benahm sich, wie ein pubertierendes Mädchen sich seinen Eltern gegenüber benimmt, nur dass ein pubertierendes Mädchen nicht anders kann, als die Augen zu rollen, während Denise' Verachtung eine bewusste, kalkulierte Form der Grausamkeit war. Sie herrschte Robin an, sich doch zusammenzureißen, wenn sie miteinander im Bett waren und Robin selbstvergessen zu schreien anfing. Sie sagte: «Sei nicht so laut. Bitte. Bitte.» Von ihrer eigenen Grausamkeit berauscht, starrte sie auf Robins Gore-Tex-Regenjacke, bis Robin fragte, was denn los sei. Denise sagte: «Ich würde bloß gern wissen, ob du je versucht bist, ein bisschen schicker auszusehen.» Robin antwortete, dass sie nie im Leben schick sein werde und es deshalb genauso gut richtig bequem haben könne. Denise erlaubte sich, die Lippen zu schürzen.
Robin wollte ihre Geliebte unbedingt wieder mit Sinead und Erin zusammenbringen, doch aus Gründen, die Denise selbst nicht völlig klar waren, weigerte sie sich, die Mädchen zu besuchen. Sie wusste nicht, wie sie ihnen unter die Augen treten sollte; schon beim Gedanken an einen Vier-Mädel-Haushalt wurde ihr schlecht.
«Sie vergöttern dich», sagte Robin.
«Ich kann das nicht.»
«Warum?»
«Weil mir nicht danach ist. Darum.»
«Na gut. Egal.»
«Wie lange willst du das Wort ‹egal› eigentlich noch benutzen? Meinst du, dass du es irgendwann mal ausrangierst? Oder ist es dein Wort fürs Leben?»
«Denise, sie vergöttern dich», quiekte Robin. «Du fehlst ihnen. Und früher hast du doch so gern was mit ihnen unternommen.»
«Tja, im Moment bin ich eben nicht in Kinderlaune. Keine Ahnung, ob ich's je wieder sein werde. Also hör bitte auf, mich zu fragen.»
Spätestens jetzt wäre die Botschaft bei den meisten Menschen angekommen; die meisten Menschen hätten das Feld geräumt und sich nie wieder blicken lassen. Doch Robin fand Geschmack daran, grausam behandelt zu werden, das wurde immer deutlicher. Robin sagte, und Denise glaubte es ihr sogar, sie hätte sich nie von Brian getrennt, wenn Brian sich nicht von ihr getrennt hätte. Robin gefiel es, bis auf einen Mikrometer vor dem Orgasmus geleckt und gestreichelt und dann verstoßen zu werden und betteln zu müssen. Und Denise gefiel es, ihr das anzutun. Denise gefiel es, aufzustehen und sich anzuziehen und nach unten zu gehen, während Robin auf sexuelle Erlösung wartete, denn niemals hätte sie geschummelt und selbst Hand angelegt. Denise saß in der Küche, las ein Buch und rauchte, bis Robin, gedemütigt, zitternd, zu ihr herunterkam und bettelte.
Die Verachtung, die Denise dann empfand, war so rein und so stark, dass sie fast besser war als Sex.
Und so ging es immer weiter. Je bereitwilliger Robin sich erniedrigen ließ, umso mehr genoss es Denise, sie zu erniedrigen. Sie ignorierte Nick Razzas telefonische Nachrichten. Sie blieb bis zwei Uhr nachmittags im Bett. Ihre Gewohnheit, nur in Gesellschaft zu rauchen, trieb Blüten der Sucht. Sie gab sich einer fünfzehn Jahre angestauten Faulheit hin und lebte von ihrem Sparkonto. Tag für Tag dachte sie an all die Dinge, die sie tun müsste, um das Haus für die Ankunft ihrer Eltern herzurichten — einen Haltegriff in der Dusche anbringen, einen Teppich auf der Treppe legen lassen, Möbel für das Wohnzimmer kaufen, einen besseren Küchentisch suchen, jemanden bitten, ihr Bett aus dem zweiten Stock nach unten, ins Gästezimmer, zu tragen — , nur um am Ende zu beschließen, dass ihr die Energie zu alledem fehlte. Ihr Leben bestand darin zu warten, bis das Henkersbeil fiel. Wenn ihre Eltern für sechs Monate zu ihr kamen, hatte es gar keinen Sinn, vorher noch etwas anderes auf die Beine zu stellen. Sie müsste ihr ganzes Nichtstun jetzt erledigen. Was genau ihr Vater von Korrektal hielt, war schwer zu sagen. Als sie ihn ein einziges Mal, am Telefon, danach gefragt hatte, war er die Antwort schuldig geblieben.
«Al?», hatte Enid nachgeholfen. «Denise möchte wissen, WAS DU VON KORREKTAL HÄLTST.»
Alfreds Stimme klang bitter. «Man sollte meinen, sie hätten sich einen besseren Namen ausdenken können.»
«Es wird ganz anders geschrieben», sagte Enid. «Denise möchte wissen, OB DU DICH AUF DIE BEHANDLUNG FREUST.» Schweigen.
«Sag ihr, wie sehr du dich freust, Al.»
«Ich stelle fest, dass mein Leiden mit jeder Woche ein bisschen schlimmer wird. Was soll eine weitere Pille schon groß daran ändern können.»
«Al, es ist keine Pille, sondern eine völlig neue Therapie, die auf deinem Patent fußt!»
«Ich habe gelernt, mich mit einem gewissen Maß an Optimismus abzufinden. Also. Wir machen alles wie geplant.»
«Denise», sagte Enid, «ich kann dir ganz viel im Haushalt helfen. Ich werde mich um alle Mahlzeiten und um die ganze Wäsche kümmern. Das wird bestimmt ein richtiges Abenteuer! Es ist einfach herrlich, dass du das für uns tun willst.»
Denise konnte sich nicht vorstellen, sechs Monate in einem Haus mit ihren Eltern zu verbringen, noch dazu in einer Stadt, mit der sie abgeschlossen hatte: sechs Monate Unsichtbarkeit als jene gastfreundliche, pflichtbewusste Tochter, die zu sein sie kaum noch heucheln konnte. Aber sie hatte ein Versprechen abgegeben; und so ließ sie ihre Wut an Robin aus.