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Am Samstagabend vor Weihnachten saß sie in ihrer Küche und blies Robin Rauch ins Gesicht, während Robin sie mit Aufheiterungsversuchen verrückt machte.

«Dass du deine Eltern einlädst, bei dir zu wohnen, ist doch ein Riesengeschenk für sie», sagte Robin.

«Das könnte es sein, wenn ich nicht so ein Wrack wäre», sagte Denise. «Man sollte nur anbieten, was man auch geben kann.»

«Das kannst du ja», sagte Robin. «Ich helfe dir dabei. Ich kann deinem Dad einige Vormittage Gesellschaft leisten, damit deine Mom mal Pause hat, und du kannst dann losgehen und tun, was immer du willst. Ich komme drei- oder viermal die Woche.» In Denise' Augen wurde die Aussicht auf diese Vormittage durch Robins Angebot nur noch trostloser und beklemmender. «Verstehst du denn nicht?», sagte sie. «Ich hasse dieses Haus. Ich hasse diese Stadt. Ich hasse mein Leben hier. Ich hasse Familie. Ich hasse Heimat. Ich will hier raus. Ich bin kein guter Mensch. Und so zu tun, als wär ich einer, macht alles nur noch schlimmer.»

«Ich finde, du bist ein guter Mensch», sagte Robin. «Ich behandle dich wie den letzten Dreck! Ist dir das überhaupt noch nicht aufgefallen?»

«Das liegt daran, dass du so unglücklich bist.» Robin kam um den Tisch herum und versuchte, ihr die Hand auf die Schulter zu legen; Denise stieß sie mit dem Ellbogen weg. Robin versuchte es erneut, und diesmal traf Denise sie mit den Knöcheln ihrer offenen Hand mitten auf der Wange.

Karmesinrot im Gesicht, als blute sie innerlich, rückte Robin von ihr ab. «Du hast mich geschlagen», sagte sie. «Das weiß ich selbst.»

«Du hast mich ziemlich hart geschlagen. Warum hast du das getan?»

«Weil ich dich hier nicht haben will. Ich will nicht Teil von deinem Leben sein. Von deinem nicht und auch von keinem anderen. Ich habe es satt, mir dabei zuzugucken, wie grausam ich zu dir bin.»

Ineinander greifende Schwungräder des Stolzes und der Liebe rotierten hinter Robins Augen. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich gefasst hatte. «Also schön», sagte sie. «Ich lasse dich in Ruhe.»

Denise machte nichts, um sie zum Bleiben zu bewegen, doch als sie die Haustür ins Schloss fallen hörte, wurde ihr klar, dass sie den einzigen Menschen verloren hatte, der ihr in der Zeit mit ihren Eltern hätte helfen können. Sie hatte Robins Gesellschaft verloren, ihre Tröstungen. Alles, was ihr noch vor einer Minute so verachtenswert erschienen war, wünschte sie sich jetzt zurück.

Sie flog nach St. Jude.

An ihrem ersten Tag dort, wie am ersten Tag jedes Besuchs bei ihren Eltern, wärmte sie sich an deren Wärme und tat alles, worum ihre Mutter sie bat. Sie winkte ab, als Enid ihr das Geld für den Einkauf geben wollte. Sie verkniff sich jeden Kommentar zu der Einliterflasche ranzigen gelben Kleisters, dem einzigen Olivenöl in Enids Küche. Sie trug den lavendelfarbenen Synthetik-Rollkragenpullover und die matronenhafte vergoldete Halskette, die ihre Mutter ihr kürzlich geschenkt hatte. Sie schwärmte, unaufgefordert, von den jungen Ballerinen im Nussknacker, sie hielt die behandschuhte Hand ihres Vaters, als sie den Parkplatz vorm Regionaltheater überquerten, sie liebte ihre Eltern mehr als alles andere auf der Welt; und kaum lagen die beiden im Bett, zog sie sich um und floh aus dem Haus.

Auf der Straße blieb sie stehen, eine Zigarette auf der Lippe, ein bebendes Streichholzheft (Dean & Trish ♦ 13. Juni 1987) zwischen den Fingern. Sie marschierte zu dem Rasenplatz hinter der Grundschule, wo sie und Don Armour einst gesessen und den Duft von Teichkolben und Verbenen gerochen hatten; sie stampfte mit den Füßen, rieb sich die Hände, sah die Wolken die Sternbilder verfinstern und sog mit tiefen, stärkenden Atemzügen ihr Selbst ein.

Später in der Nacht führte sie ein heimliches Manöver zugunsten ihrer Mutter durch: Während Gary mit Alfred beschäftigt war, ging sie in sein Zimmer, griff in die Innentasche seiner Lederjacke, tauschte das Mexican A gegen eine Handvoll Advils aus und ließ Enids Droge an einem sichereren Ort verschwinden, bevor sie sich, brave Tochter, endlich schlafen legte. An ihrem zweiten Tag in St. Jude, wie am zweiten Tag jedes ihrer Besuche, wachte sie wütend auf. Die Wut war ein autonomes neurochemisches Phänomen; nicht einzudämmen. Beim Frühstück setzte ihr jedes Wort, das ihre Mutter sagte, zu. Die Rippchen und das Sauerkraut nach alter Sitte zuzubereiten und nicht nach jener modernen, die sie beim Generator entwickelt hatte, machte sie wütend. (So viel Fett, so ein Substanzverlust.) Die bradykinetische Schwerfälligkeit von Enids Elektroherd, die sie tags zuvor nicht weiter gestört hatte, machte sie wütend. Die unzähligen Kühlschrankmagneten, welpenhaft-rührend in ihrer Ikonographie und derart schwach haftend, dass man kaum die Tür öffnen konnte, ohne einen Schnappschuss von Jonah oder eine Postkarte aus Wien zu Boden sausen zu lassen, trieben sie an den Rand des Wahnsinns. Sie ging in den Keller, um den alten Zehnliterkochtopf zu holen, und die Unordnung in den Waschküchenschränken brachte sie zur Weißglut. Sie zerrte einen Mülleimer aus der Garage herein und fing an, ihn mit dem Kram ihrer Mutter zu füllen. Ganz bestimmt war das hilfreich für ihre Mutter, und so machte sich Denise mit Hingabe an die Arbeit. Sie warf die koreanischen Brechbeeren weg, die fünfzig am allerwertlosesten aussehenden Plastikblumentöpfe, die Sammlung Sanddollarscherben und das Bündel Silberdollarpflanzen, von denen alle Dollars abgefallen waren. Sie warf den Kranz aus goldbesprühten Kiefernzapfen weg, den jemand auseinander gerupft hatte. Sie warf den Brandy-Kürbis-«Aufstrich» weg, der einen rotzigen Graugrünton angenommen hatte. Sie warf die neolithischen Dosen Palmenherzen und Baby-Schrimps und chinesischen Miniaturmaiskolben weg, den trüben schwarzen Liter rumänischen Weins, dessen Korken verrottet war, die Flasche Mai-Tai-Mix aus der Nixon-Ära, an deren Hals sich eine schlammige Kruste gebildet hatte, die Kollektion von Paul-Masson-Chablis-Karaffen mit Spinnenbeinen und Mottenflügeln auf den Böden, die vollkommen verrostete Aufhängung eines längst entsorgten Mobiles. Sie warf die Einliterglasflasche Diätcola weg, die mittlerweile die Farbe von Blutplasma hatte, das verschnörkelte Töpfchen Kumquatrosinen, das inzwischen zu einer Phantasie aus steinernem Kandis und amorpher brauner Masse geworden war, die übel riechende Thermoskanne, deren zerbrochenes Innenglas beim Schütteln klirrte, den verschimmelten Achtelscheffel-Warenkorb voll ebenso übel riechender leerer Joghurtbecher, die durch Oxydation klebrig gewordenen, vor abgetrennten Mottenflügeln strotzenden Sturmlaternen, die verschwundenen Königreiche aus Blumenerde und Blumendraht, die noch im Zerbröseln und Verrosten brüderlich zusammenhielten…

Ganz hinten im Schrank, zwischen den Spinnweben an der Rückwand des untersten Regals, fand sie einen dicken, unfrankierten Briefumschlag, der nicht sehr alt aussah. Er war an die Axon Corporation, 24 East Industrial Serpentine, Schwenksville, PA adressiert. Der Absender war Alfred Lambert. Vorne auf dem Umschlag stand außerdem PER EINSCHREIBEN. In dem Möchtegern-Bad neben dem Labor ihres Vaters rauschte der Wasserkasten der Toilette, schwache schwefelige Gerüche hingen in der Luft. Die Tür zum Labor war offen, und Denise klopfte an.

«Ja», sagte Alfred.

Er stand vor dem Regal exotischer Metalle, dem Gallium und Wismut, und schnallte sich den Gürtel zu. Sie zeigte ihm den Umschlag, erzählte, wo sie ihn gefunden hatte.

Alfred drehte ihn in seinen zitternden Händen, als könne ihm so, wie durch Zauberkraft, eine Erklärung einfallen. «Ein Rätsel», sagte er.

«Darf ich ihn öffnen?»

«Ganz, wie du willst.»

Der Umschlag enthielt drei Ausfertigungen eines auf den 13. September datierten Lizenzvertrags, den Alfred unterschrieben und David Schumpert notariell beglaubigt hatte.