«Was hat dieser Brief auf dem Boden des Waschküchenschranks zu suchen?», fragte Denise.
Alfred schüttelte den Kopf. «Das musst du deine Mutter fragen.»
Sie stellte sich an den Fuß der Treppe und hob die Stimme. «Mom? Kannst du mal kurz runterkommen?»
Enid tauchte oben am Treppenabsatz auf und trocknete sich mit einem Geschirrhandtuch die Hände ab. «Was ist denn? Kannst du den Topf nicht finden?»
«Doch, den Topf hab ich gefunden, aber könntest du trotzdem mal runterkommen?»
Alfred, im Labor, hielt die Axon-Schriftstücke, ohne sie zu lesen, locker zwischen den Fingern. Enid erschien mit schuldbewusster Miene im Türrahmen. «Was ist?»
«Dad möchte wissen, warum dieser Umschlag im Wäscheschrank lag.»
«Gib her», sagte Enid. Sie riss Alfred die Schriftstücke aus der Hand und zerknüllte sie. «Das ist alles längst geregelt. Dad hat drei andere Exemplare des Vertrags unterschrieben, und sie haben uns postwendend einen Scheck zugesandt. Kein Grund zur Aufregung.»
Denise kniff die Augen zusammen. «Hattest du nicht gesagt, du hättest die hier abgeschickt? Als wir in New York waren, Anfang Oktober? Da hast du doch gesagt, du hättest die hier abgeschickt.»
«Das dachte ich auch. Aber sie sind in der Post verloren gegangen.»
«In der Post?»
Enid wedelte vage mit den Händen. «Na ja, ich dachte, ich hätte sie zur Post gebracht. Aber sie waren wohl im Schrank. Wahrscheinlich habe ich einen Stapel Briefe hier unten abgelegt, bevor ich zur Post gegangen bin, und dann ist der Umschlag rausgerutscht. Weißt du, ich kann nicht jede Kleinigkeit im Blick behalten. Es geht schon mal was verloren, Denise. Ich muss mich um den ganzen Haushalt kümmern, da geht schon mal was verloren.»
Denise nahm den Umschlag von Alfreds Werkbank. «Da steht ‹Per Einschreiben› drauf. Wenn du bei der Post warst, wie konntest du dann nicht bemerken, dass eine Sendung, die du per Einschreiben schicken wolltest, fehlte? Wie konntest du nicht bemerken, dass du keinen Zettel ausgefüllt hast?»
«Denise.» Alfreds Stimme hatte einen ärgerlichen Unterton. «Ist gut jetzt.»
«Ich kann mir das auch nicht erklären», sagte Enid. «Ich hatte damals viel um die Ohren. Mir ist das völlig schleierhaft, und damit hat sich's. Weil es keine Rolle spielt. Dad hat seine fünftausend Dollar ja bekommen. Es spielt keine Rolle.»
Sie knüllte die Lizenzverträge noch kleiner zusammen und verließ das Labor.
Ich kriege allmählich Garyitis, dachte Denise.
«Du solltest deiner Mutter nicht so zusetzen», sagte Alfred.
«Ich weiß. Tut mir Leid.»
Doch schon schrie Enid in der Waschküche auf, schrie im Tischtennisraum, kam zurück in die Werkstatt. «Denise», rief sie, «du hast den ganzen Waschküchenschrank auf den Kopf gestellt! Was in aller Welt machst du da?»
«Ich werfe Lebensmittel weg. Lebensmittel und anderes vergammeltes Zeug.»
«Gut, aber warum ausgerechnet jetzt? Wir haben doch noch das ganze Wochenende Zeit. Wenn du mir helfen willst, ein paar Schränke auszumisten — herrlich. Aber nicht heute. Lass uns nicht heute damit anfangen.»
«Die Lebensmittel sind verdorben, Mom. Wenn du sie zu lange stehen lässt, werden sie giftig. Anaerobe Bakterien sind tödlich.»
«Na schön, dann räum das jetzt noch zu Ende auf, aber die anderen Schränke nehmen wir uns am Wochenende vor. Heute haben wir nicht genug Zeit dafür. Ich möchte, dass du mit dem Essen vorankommst, damit alles fertig ist und du nicht mehr daran denken musst, und dann möchte ich unbedingt, dass du Dad bei seinen Übungen hilfst, wie du es versprochen hast!»
«Das mache ich noch.»
«Al», rief Enid an Denise vorbei, «Denise möchte dir nach dem Mittagessen bei deinen Übungen helfen!»
Er schüttelte, wie vor Ekel, den Kopf. «Wenn du meinst.»
Auf einer der alten Lambert'schen Tagesdecken, die lange als Überwurf gedient hatte, waren Korbstühle und Korbtische, in frühen Stadien des Abschmirgelns und Anstreichens, aufeinander gestapelt. Ein paar zugedeckte Kaffeedosen standen dicht beisammen auf einem aufgeschlagenen Zeitungsteil; an der Werkbank lehnte, in einer Segeltuchhülle, ein Gewehr.
«Was hast du mit dem Gewehr vor, Dad?», fragte Denise.
«Ach, das will er schon seit Jahren verkaufen», sagte Enid. «AL, WIRST DU DAS DUMME GEWEHR JEMALS VERKAUFEN?»
Alfred schien diesen Satz mehrmals in seinem Kopf hin und her zu wenden, um ihm einen Sinn zu entlocken. Ganz langsam nickte er. «Ja», sagte er. «Ich werde das Gewehr verkaufen.»
«Ich hab es schrecklich ungern im Haus», sagte Enid im Gehen. «Weißt du, er hat es nie benutzt. Nicht ein einziges Mal. Ich glaube nicht, dass je ein Schuss daraus abgegeben worden ist.»
Alfred kam lächelnd auf Denise zu, sodass sie in Richtung Tür zurückweichen musste. «Ich bin hier gleich fertig», sagte er.
Oben war es Heiligabend. Päckchen sammelten sich unter dem Baum. Im Vordergarten schaukelten die fast kahlen Äste der weißen Sumpfeichen in einer Brise, die gedreht hatte und jetzt mit Schnee zu drohen schien; das tote Gras hielt tote Blätter gefangen.
Wieder spähte Enid durch die Gardinen. «Muss ich mir Chips wegen Sorgen machen?»
«Ich würde mir Sorgen machen, dass er nicht kommt», antwortete Denise, «aber nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist.»
«In der Zeitung steht, dass rivalisierende Gruppen um die Kontrolle über die Innenstadt von Vilnius kämpfen.»
«Chip passt bestimmt gut auf sich auf.»
«Ach, komm mal mit», sagte Enid und führte Denise zur Haustür. «Ich möchte, dass du das letzte Dingelchen an den Adventskalender heftest.»
«Mutter, warum machst du das nicht.»
«Nein, ich möchte dir dabei zusehen.»
Die letzte Miniatur war das Christkind in der Walnussschale. Es an den Filzbaum zu heften war eine Aufgabe für ein Kind, für jemand Gutgläubigen und Hoffnungsvollen, und auf einmal wurde Denise deutlich bewusst, dass sie alles darangesetzt hatte, sich gegen die Gefühle in diesem Haus, gegen dessen Durchdrungensein von Kindheitserinnerungen und ihrer Bedeutsamkeit, zu wappnen. Sie konnte nicht das Kind sein, das diese Aufgabe übernahm.
«Es ist dein Kalender», sagte sie. «Du solltest es tun.»
Die Enttäuschung auf Enids Gesicht war unverhältnismäßig groß. Es war eine alte Enttäuschung über die ewige Weigerung der Welt im Allgemeinen und ihrer Kinder im Besonderen, ihre liebsten Luftschlösser zu bewohnen.
«Dann werde ich wohl Gary bitten», sagte sie mit düsterer Miene.
«Es tut mir Leid», sagte Denise.
«Früher, als du ein kleines Mädchen warst, da war es dein Schönstes, die Dingelchen anzuheften. Dein Allerschönstes. Aber wenn du nicht willst, dann eben nicht.»
«Mom.» Denise' Stimme schwankte. «Bitte zwing mich nicht dazu.»
«Wenn ich gewusst hätte, dass es eine solche Zumutung ist», sagte Enid, «hätte ich dich gar nicht erst gefragt.» «Lass mich zugucken, wie du es machst!», bat Denise.
Enid schüttelte den Kopf und wandte sich ab. «Ich werde Gary fragen, wenn er vom Einkaufen nach Hause kommt.»
«Es tut mir so Leid.»
Denise trat aus der Haustür und setzte sich auf die Außentreppe, um zu rauchen. Die Luft hatte etwas Aufgescheuchtes, ein südliches Schneearoma. Weiter unten an der Straße sah sie Kirby Root ein aus Kiefernzweigen geflochtenes Seil um den Pfahl seiner Gaslampe wickeln. Er winkte, und sie winkte zurück.
«Wann hast du angefangen zu rauchen?», fragte Enid, als Denise wieder hereinkam.
«Vor fünfzehn Jahren ungefähr.»
«Das soll wirklich keine Kritik sein», sagte Enid, «aber Rauchen ist eine schreckliche Angewohnheit — so ungesund. Es ist schlecht für deine Haut und, offen gestanden, für andere kein schöner Geruch.»