«Stimmt. Das tue ich noch.»
«Am besten jetzt gleich, bevor er sich frisch macht. Warte, ich hole schnell den Zettel von Dr. Hedgpeth.»
Enid humpelte die Treppe hinunter, und Denise hob die Stimme. «Dad?»
Keine Antwort.
Enid kam ein paar Stufen herauf und steckte einen violetten Bogen Papier («BEWEGUNG IST GOLD») durch die Geländerstäbe, auf dem Strichmännchen sieben Streck- und Dehnungsübungen vorführten. «Bring sie ihm richtig bei», sagte sie. «Bei mir wird er so schnell ungeduldig, aber auf dich wird er hören. Dr. Hedgpeth fragt mich immer wieder, ob Dad auch seine Übungen macht. Es ist sehr wichtig, dass er sie wirklich beherrscht. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du die ganze Zeit geschlafen hast.»
Denise nahm den Übungsbogen mit ins Elternschlafzimmer, wo Alfred, von der Hüfte abwärts nackt, im Türrahmen seines begehbaren Kleiderschranks stand.
«Oh, entschuldige, Dad», sagte sie und wich zurück.
«Was gibt es?»
«Wir müssen uns deine Übungen anschauen.»
«Ich bin schon ausgezogen.»
«Zieh dir einfach eine Pyjamahose an. Lockere Kleidung ist sowieso besser.»
Sie brauchte fünf Minuten, um ihn so weit zu beruhigen, dass er sich, in Wollhemd und Pyjamahose, auf seinem Bett ausstreckte; und hier, endlich, kam die ganze Wahrheit ans Licht.
Bei der ersten Übung musste Alfred, auf dem Rücken liegend, mit beiden Händen sein rechtes Knie umfassen, es an die Brust ziehen und dann das Gleiche mit dem linken Knie wiederholen. Denise führte seine widerspenstigen Hände an sein rechtes Knie, und obwohl sie erschrocken zur Kenntnis nahm, wie steif er geworden war, gelang es ihm mit ihrer Hilfe immerhin, sein Bein um mehr als neunzig Grad anzuwinkeln.
«Und jetzt das linke Knie», sagte sie.
Alfred legte seine Hände erneut um das rechte Knie und zog es zu sich heran.
«Sehr gut», sagte sie. «Aber jetzt versuch das Gleiche mal mit dem linken.»
Er lag schwer atmend da und tat nichts. Sein Gesicht hatte den Ausdruck eines Mannes, der sich mit einem Schlag an etwas Fürchterliches erinnert.
«Dad? Versuch's mal mit dem linken.»
Sie berührte sein linkes Knie, vergebens. In seinen Augen las sie den verzweifelten Wunsch, zu begreifen und angeleitet zu werden. Sie führte ihm die Hände zum linken Knie, und augenblicklich fielen sie herunter. Vielleicht war seine Steifheit auf der linken Seite schlimmer? Sie legte seine Hände wieder an sein Knie und half ihm, es anzuheben.
Falls es überhaupt einen Unterschied gab, schien er auf der linken Seite eher beweglicher zu sein.
«Jetzt versuch es selbst», sagte sie.
Er grinste sie an und atmete wie jemand in großer Angst.
«Was versuchen.»
«Die Hände um dein linkes Knie zu legen und es anzuheben.»
«Denise, ich habe jetzt genug davon.»
«Du wirst dich viel besser fühlen, wenn du dich ein bisschen dehnst und streckst», sagte sie. «Tu einfach noch mal, was du eben schon getan hast. Leg die Hände um dein linkes Knie und heb es an.»
Ihr Lächeln wurde als tiefe Ratlosigkeit zurückgespiegelt. Still trafen sich ihre Blicke.
«Welches ist das linke?», fragte er.
Sie berührte sein linkes Knie. «Das hier.»
«Und was muss ich damit machen?»
«Es mit den Händen umfassen und an die Brust ziehen.»
Seine Augen wanderten ängstlich umher, lasen schlimme Nachrichten an der Zimmerdecke ab.
«Dad, konzentrier dich mal.»
«Es hat nicht viel Sinn.»
«Na schön.» Sie holte tief Luft. «Na schön, dann lassen wir diese Übung und probieren es mit der nächsten. Einverstanden?»
Er sah sie an, als wüchsen ihr, seiner einzigen Hoffnung, Hauer und Hörner.
«Also, bei der zweiten Übung», sagte sie, bemüht, nicht auf seinen Gesichtsausdruck zu achten, «legst du dein rechtes Bein über das linke und lässt dann beide Beine so weit wie möglich nach rechts fallen. Die Übung gefällt mir», sagte sie. «Dabei wird der Hüftbeugemuskel gedehnt. Das ist ein richtig wohliges Gefühl.»
Sie erklärte sie ihm noch zweimal und forderte ihn dann auf, sein rechtes Bein anzuheben.
Er hob beide Beine ein paar Zentimeter von der Matratze.
«Nur das rechte», sagte sie sanft. «Und halt die Knie gebeugt.»
«Denise!» Seine Stimme überschlug sich vor Anstrengung. «Es hat keinen Sinn!»
«Komm», sagte sie. «So.» Sie drückte mit der Hand auf seine Füße, um ihm die Knie zu beugen. Dann hob sie, Ober- und Unterschenkel stützend, sein rechtes Bein an und legte es über sein linkes Knie. Zuerst war kein Widerstand zu spüren, doch dann, mit einem Mal, schien er sich heftig zu verkrampfen.
«Denise.»
«Dad, entspann dich einfach.»
Sie wusste bereits, dass er nie nach Philadelphia kommen würde. Jetzt stieg eine tropische Feuchtigkeit von ihm auf, ein scharfer Beinahegeruch des Loslassens. Der Pyjamastoff an seinem Schenkel war heiß und nass in ihrer Hand, und sein ganzer Körper zitterte.
«Oh, verdammt», sagte sie und zog ihre Hand weg.
Schnee wirbelte vor den Fenstern, Lichter leuchteten in den Nachbarhäusern auf. Denise wischte sich die Hand an ihrer Jeans ab und senkte die Augen, horchte, mit stark klopfendem Herzen, auf das angestrengte Atmen ihres Vaters und das rhythmische Geraschel seiner Glieder auf der Tagesdecke. In der Nähe seines Schritts hatte sich auf der Tagesdecke ein Nässebogen gebildet, und ein längerer Kapillareffekt-Fleck breitete sich an einem der Pyjamahosenbeine nach unten aus. Der anfängliche Beinahegeruch frischer Pisse war in der kühlen Luft des kaum geheizten Raums rasch einem unverkennbaren und angenehmen Aroma gewichen.
«Tut mir Leid, Dad», sagte sie. «Ich hole dir ein Handtuch.»
Alfred lächelte die Zimmerdecke an und sprach mit einer weniger aufgeregten Stimme. «Ich liege hier und kann es sehen», sagte er. «Siehst du es auch?»
«Was?»
Er wies mit einem Finger unbestimmt gen Himmel. «Untendrunter. Untendrunter unter der Bank», sagte er. «Da hingeschrieben. Siehst du?»
Jetzt war sie verwirrt, und er war es nicht. Er hob eine Augenbraue und schaute sie listig an. «Du weißt doch, wer das geschrieben hat, oder? Der Kä. Der Kä. Kerl mit dem du weißt schon.»
Ihrem Blick standhaltend, nickte er bedeutungsvoll.
«Ich weiß nicht, was du meinst», sagte Denise.
«Dein Freund», sagte er. «Der Kerl mit den blauen Wangen.»
Das erste Prozent des Begreifens wurde in ihrem Nacken geboren und begann nach Norden und nach Süden zu wachsen.
«Ich hol dir ein Handtuch», sagte sie und blieb, wo sie war.
Die Augen ihres Vaters rollten wieder zur Zimmerdecke hoch. «Auf die Unterseite der Bank hat er's geschrieben. Un- unsununde. Unterseitederbank. Und ich liege hier und kann es sehen.»
«Von wem reden wir?»
«Deinem Freund aus der Abteilung Signale. Dem Kerl mit den blauen Wangen.»
«Du bist verwirrt, Dad. Du träumst. Ich hol dir jetzt ein Handtuch.»
«Siehst du, es hatte noch nie einen Sinn, irgendwas zu sagen.»
«Ich hol dir ein Handtuch.»
Sie ging quer durchs Schlafzimmer ins Bad. Ihr Kopf war noch in dem Mittagsschlaf, den sie vorhin gehalten hatte, und das Problem wurde zusehends schlimmer. Sie lief immer weniger synchron mit den Schwingungen der Wirklichkeitswellen, aus denen Handtuch-Weichheit, Himmels-Dunkelheit, Fußboden-Hartheit und Luft-Klarheit bestanden. Warum sprach er von Don Armour? Warum jetzt?
Ihr Vater hatte sich auf die Bettkante gesetzt und die Pyjamahose abgestreift, als Denise zurückkam. Er streckte eine Hand nach dem Frotteetuch aus. «Ich bringe den Schlamassel hier schon in Ordnung», sagte er. «Geh und hilf deiner Mutter.»
«Nein, ich mache das», sagte sie. «Du kannst so lange ein Bad nehmen.»