«Gib mir den Lappen. Das ist nicht deine Aufgabe.»
«Dad, nimm doch ein Bad.»
«Es war nicht meine Absicht, dich da hineinzuziehen.»
Seine Hände, immer noch ausgestreckt, zappelten in der Luft. Denise wandte die Augen von seinem anstößigen, feuchten Penis ab. «Steh bitte auf», sagte sie. «Ich möchte die Tagesdecke abnehmen.»
Alfred bedeckte seinen Penis mit dem Handtuch. «Überlass das deiner Mutter», sagte er. «Ich habe ihr gesagt, Philadelphia ist blanker Unsinn. Ich hatte nie die Absicht, dich in all das hineinzuziehen. Du hast dein eigenes Leben. Genieß es einfach und sei vorsichtig.»
Er blieb auf dem Bettrand sitzen, den Kopf gesenkt, die Hände wie große, leere, fleischige Löffel in seinem Schoß.
«Möchtest du, dass ich dir ein Bad einlasse?», fragte Denise.
«Ich wun-nunnnunn-un», sagte er. «Hab dem Kerl verklickert, dass er blanken Unsinn faselt, aber was soll's?» Alfred machte eine Ist-doch-logisch- oder Lässt-sich-nicht-ändern-Gebärde. «Dachte, er käme nach Little Rock! Du doch nicht. Hab ich gesagt! Geht nach Dienstalter. Na ja, alles blanker Unsinn. Ich hab ihm gesagt, er soll sich zum Teufel scheren.» Er sah Denise entschuldigend an und zuckte mit den Schultern. «Was hätte ich sonst tun sollen?»
Denise hatte sich schon manchmal unsichtbar gefühlt, aber noch nie so wie jetzt. «Ich weiß nicht genau, was du meinst», sagte sie.
«Na ja.» Alfred machte eine vage Schwer-zu-erklären-Gebärde. «Er hat mir gesagt, ich soll unter der Bank nachgucken. Ganz einfach. Soll unter der Bank nachgucken, wenn ich ihm nicht glaube.»
«Unter was für einer Bank?»
«Alles blanker Unsinn», sagte er. «Einfacher, meinen Hut zu nehmen. Für alle. Weißt du, an diese Möglichkeit hat er gar nicht gedacht.»
«Reden wir von der Eisenbahn?»
Alfred schüttelte den Kopf. «Nicht deine Sorge. Es war nie meine Absicht, dich in all das hineinzuziehen. Ich möchte, dass du dein Leben genießt. Und vorsichtig bist. Sag deiner Mutter, sie soll mit einem Lappen kommen.»
Und schon katapultierte er sich quer über den Teppich und schloss die Badezimmertür hinter sich. Um irgendetwas zu tun, zog Denise das Bett ab, rollte alles, einschließlich der nassen Pyjamahose ihres Vaters, zu einem Ball zusammen und brachte es nach unten.
«Wie läuft's denn da oben?», fragte Enid von ihrem Weihnachtskartenposten im Esszimmer aus.
«Er hat ins Bett gemacht», sagte Denise.
«Ach, du liebe Zeit.»
«Er kann sein linkes Bein nicht von seinem rechten unterscheiden.»
Enids Gesicht verfinsterte sich. «Ich dachte, auf dich würde er vielleicht hören.»
«Mutter, er kann sein linkes Bein nicht von seinem rechten unterscheiden.»
«Manchmal lässt ihn seine Medizin — »
«Ja! Ja!» Denise' Stimme schallte. «Die Medizin!»
Nachdem sie ihre Mutter zum Schweigen gebracht hatte, ging sie in den Keller, um die Wäsche zu sortieren und einzuweichen. Hier trat ihr, übers ganze Gesicht strahlend, Gary in den Weg und hielt eine Modelleisenbahn der Größe O in die Höhe.
«Ich hab sie gefunden.»
«Was gefunden.»
Gary schien gekränkt, dass Denise sein Wünschen und Treiben nicht aufmerksam verfolgt hatte. Er erklärte ihr, dass die Hälfte seiner Eisenbahnanlage aus Kindertagen — «die wichtige Hälfte, die mit den Zügen und dem Transformator» — seit Jahrzehnten unauffindbar und von ihm längst abgeschrieben gewesen sei. «Ich habe eben den gesamten Schuppen auf den Kopf gestellt», sagte er. «Und was glaubst du, wo ich sie gefunden habe?»
«Wo.»
«Rate mal.»
«Zuunterst in der Kiste mit den Seilen», sagte sie.
Gary riss die Augen auf. «Woher weißt du das? Ich suche sie seit Jahrzehnten.»
«Tja, du hättest mich fragen sollen. In der großen Kiste mit den Seilen ist eine kleinere Kiste mit Eisenbahnsachen.»
«Na ja, egal.» Gary schüttelte sich, um statt ihrer wieder seine Person in den Brennpunkt zu rücken. «Es ist zwar ein schönes Gefühl, sie gefunden zu haben, aber trotzdem wär's nett gewesen, wenn du mir was gesagt hättest.»
«Es wäre nett gewesen, wenn du mich gefragt hättest!»
«Weißt du, diese Eisenbahn ist ein richtig guter Zeitvertreib für mich. Man kann alle möglichen tollen Sachen dazukaufen.»
«Schön! Freut mich für dich!»
Gary blickte staunend auf die Lok in seiner Hand. «Ich hätte nie gedacht, dass ich die noch einmal wieder sehen würde.»
Als er fort war und Denise allein im Keller zurückgelassen hatte, ging sie mit einer Taschenlampe in Alfreds Labor, kniete sich zwischen die Yuban-Dosen und besah sich die Unterseite der Bank. Dort fand sie, verwischt, mit Bleistift gezeichnet, ein Herz von der Größe eines Menschenherzens:
Sie sackte zusammen, die Knie auf dem steinkalten Boden. Little Rock. Dienstalter. Einfacher, meinen Hut zu nehmen.
Gedankenverloren hob sie den Deckel einer Yuban-Dose an. Sie war bis zum Rand voll mit grelloranger, gegorener Pisse.
«O Mann», sagte sie zu der Schrotflinte.
Als sie in ihr Zimmer hinauf lief und sich Mantel und Handschuhe anzog, tat ihr am allermeisten ihre Mutter Leid, denn gleichgültig, wie oft und wie bitter Enid sich bei ihr beklagt hatte, nie hatte es Denise in den Kopf gewollt, dass das Leben in St. Jude zu einem solchen Albtraum geworden sein könnte; und welches Recht hatte man, einfach weiterzuatmen, ja, schlimmer noch, zu lachen und zu schlafen und sich das Essen schmecken zu lassen, wenn man sich nicht einmal vorzustellen vermochte, wie schwer das Leben eines anderen war?
Enid stand schon wieder an der Gardine des Esszimmerfensters und hielt Ausschau nach Chip.
«Ich gehe spazieren!», rief Denise, bevor sie die Eingangstür hinter sich zumachte.
Auf dem Rasen vor dem Haus lagen fünf Zentimeter Schnee. Im Westen brachen die Wolken auf; wilde Lidschatten-Schattierungen, von Lavendel bis Rotkehlcheneierblau, markierten die Schnittkante der jüngsten Kaltfront. Denise wanderte mitten auf den dämmrigen, von Spuren überzogenen Straßen entlang und rauchte, bis das Nikotin ihren Kummer betäubt hatte und sie klarer denken konnte.
Vermutlich hatte sich Don Armour, nachdem die Wroth-Brüder die Midland Pacific gekauft und mit dem Personalabbau begonnen hatten und ihm der Sprung nach Little Rock nicht geglückt war, an Alfred gewandt, um Beschwerde einzulegen. Vielleicht hatte er ihm gedroht, überall damit zu prahlen, dass er Alfreds Tochter herumgekriegt hatte, oder aber er war so dreist gewesen, auf seine Rechte als Quasimitglied der Lambert'schen Familie zu pochen; so oder so hatte Alfred ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren. Dann war Alfred nach Hause gegangen und hatte einen Blick auf die Unterseite seiner Werkbank geworfen.
Denise war überzeugt, dass es zwischen Don Armour und ihrem Vater einen höchst unerfreulichen Wortwechsel gegeben hatte, doch ihr grauste davor, ihn sich auszumalen. Wie musste Don Armour sich dafür verachtet haben, dass er zum Chef vom Chef seines Chefs gekrochen kam und bettelte und flehte oder ihn erpresste, um mit der Eisenbahngesellschaft nach Little Rock gehen zu dürfen; wie musste sich Alfred von seiner Tochter, die für ihren Arbeitseifer noch kurz zuvor so gelobt worden war, verraten gefühlt haben; was für eine grässliche Wendung musste das ganze unerträgliche Gespräch genommen haben, als auf einmal klar wurde, dass Don Armour ihr seinen Schwanz in diese und jene sündige, gar nicht erregte Öffnung gesteckt hatte. Ihr grauste, wenn sie sich vorstellte, wie ihr Vater vor seiner Werkbank gekniet und das Bleistiftherz entdeckt hatte; ihr grauste bei dem Gedanken, dass Don Armours dreckige Anspielungen auf die prüden Ohren ihres Vaters getroffen waren; ihr grauste, wenn sie sich überlegte, wie tief es einen Mann von Alfreds Disziplin, einen Mann, der so viel Wert auf seine Privatsphäre legte, gekränkt haben musste, zu erfahren, dass Don Armour nach Belieben in seinem Haus herumgeschnüffelt und — gestöbert hatte.