Es war nie meine Absicht, dich in all das hineinzuziehen.
Und tatsächlich: Ihr Vater war aus der Eisenbahngesellschaft ausgeschieden. Er hatte seine Hand schützend über Denise' Privatsphäre gehalten. Hatte nie ein Sterbenswort von alledem zu ihr gesagt, nicht die leiseste Andeutung gemacht, dass sein Bild von ihr Schaden genommen hatte. Fünfzehn Jahre lang hatte sie die tadellos verantwortungsvolle und umsichtige Tochter gegeben, und die ganze Zeit hatte er gewusst, dass sie es nicht war.
Sie ahnte, dass ein gewisser Trost in diesem Gedanken lag, wenn es ihr nur gelang, ihn im Kopf zu behalten.
Als sie das Viertel ihrer Eltern hinter sich ließ, wurden die Häuser neuer und größer und kastenförmiger. Durch Fenster, die keine Mittelsprossen oder unechte Plastikmittelsprossen hatten, sah sie leuchtende Bildschirme, manche riesenhaft, manche winzig. Offenbar war jede Stunde des Jahres, selbst diese, eine gute Stunde, um auf einen Bildschirm zu starren. Denise knöpfte sich den Mantel auf und kehrte heim, eine Abkürzung über den Rasenplatz hinter ihrer alten Grundschule nehmend.
Sie hatte ihren Vater niemals wirklich gekannt. Wahrscheinlich hatte das keiner. Mit seiner Scheu und seiner Förmlichkeit und seinen tyrannischen Wutausbrüchen verteidigte er erbittert sein Inneres, und wer ihn liebte, wie sie es tat, begriff bald, dass er ihm keinen größeren Gefallen tun konnte, als seine Privatsphäre zu achten.
Alfred wiederum hatte gezeigt, dass er an sie glaubte, indem er sie so akzeptierte, wie sie sich gab: indem er es ablehnte, hinter ihrer Fassade herumzuschnüffeln. Am glücklichsten war sie, als seine Tochter, immer dann gewesen, wenn sie seinen Glauben an sie vor aller Welt rechtfertigen konnte: wenn sie ein reines Einser-Zeugnis mit nach Hause brachte; wenn sie mit ihren Restaurants Erfolg hatte; wenn die Kritiker sie lobten.
Besser, als ihr lieb war, verstand sie, was für ein Desaster es für ihn gewesen sein musste, vor ihren Augen das Bett zu nässen. Auf einem schnell abkühlenden Urinfleck zu liegen entsprach sicher nicht der Art, wie er in ihrer Gegenwart sein wollte. Sie kannten nur eine einzige gute Art des Miteinanders, und deren Tage waren gezählt.
So seltsam es klingen mochte — für Alfred war Liebe nicht eine Sache der Annäherung, sondern des Abstandhaltens. Ihr war das weniger fremd als Chip und Gary, und deshalb empfand sie für ihn eine ganz besondere Verantwortung.
Chip, der dumme Junge, glaubte, dass Alfred sich nur dann für seine Kinder interessierte, wenn sie Erfolg hatten. Er war so damit beschäftigt, sich missverstanden zu fühlen, dass ihm überhaupt nicht auffiel, wie sehr er seinen Vater missverstand. In Chips Augen bewies Alfreds Unvermögen, zärtlich zu sein, dass Alfred nicht begriff, oder sich gar nicht darum scherte, wer Chip war. Er sah nicht, was für alle anderen offensichtlich war: Wenn es einen einzigen Menschen auf der Welt gab, den Alfred nur um seiner selbst willen liebte, dann war es Chip. Denise hatte längst erkannt, dass sie Alfred nicht so nahe stand; abgesehen von Äußerlichkeiten und ihrem Leistungsdenken hatten sie wenig miteinander gemein. Chip war es, nach dem Alfred mitten in der Nacht gerufen hatte, obwohl er wusste, dass Chip gar nicht da war.
Ich habe dir das, so gut ich konnte, klar zu machen versucht, sagte sie, während sie den verschneiten Rasenplatz überquerte, zu ihrem Trottel von Bruder. Besser kann ich es nicht.
Das Haus, in das sie zurückkehrte, war voller Licht. Gary, vielleicht auch Enid, hatte auf dem Gehweg Schnee gefegt. Denise trat sich die Füße auf der Hanfmatte ab, da flog die Tür auf.
«Ach, du bist es», sagte Enid. «Ich dachte schon, es wäre Chip.»
«Nein. Bloß ich.»
Sie ging hinein und zog die Stiefel aus. Gary hatte ein Feuer angezündet und saß in dem Lehnstuhl direkt am Kamin, einen Stapel alter Fotoalben vor sich auf dem Boden.
«Ich rate dir eins», sagte er zu Enid. «Schlag dir Chip aus dem Kopf.»
«Er muss in Schwierigkeiten stecken», sagte Enid. «Sonst hätte er angerufen.»
«Mutter, er ist ein Soziopath. Begreif das doch endlich.»
«Du weißt nicht das Mindeste von Chip», sagte Denise zu Gary.
«Ich weiß, ob einer sich weigert, sein Scherflein beizutragen.»
«Ich möchte doch nur, dass wir alle zusammen sind!», sagte Enid.
Gary stieß einen zärtlichen Seufzer aus. «Oh, Denise», sagte er. «Nein, so was. Guck dir das kleine Mädchen hier an.»
«Ein andermal vielleicht.»
Doch da kam Gary schon mit dem Fotoalbum quer durchs Wohnzimmer und hielt es ihr, auf ein Familienweihnachtsfoto deutend, unter die Nase. Das pummelige, wuschelhaarige, entfernt semitisch aussehende kleine Mädchen auf dem Bild war Denise mit ungefähr achtzehn Monaten. Nicht ein Fünkchen Sorge trübte ihr Lächeln oder das Lächeln von Chip und Gary. Sie saß zwischen ihnen auf dem Wohnzimmersofa, in seiner noch nicht wieder aufgepolsterten Erscheinungsform; beide hatten einen Arm um sie gelegt; ihre reinhäutigen Jungengesichter berührten sich fast über dem ihren.
«Ist das nicht ein süßes kleines Mädchen?», sagte Gary.
«Nein, wie goldig», sagte Enid, sich dazwischen drängend.
Aus der Mitte des Albums rutschte ein Briefumschlag mit einem PER-EINSCHREIBEN-Aufkleber heraus. Enid hob ihn rasch vom Boden auf, ging zum Kamin und warf ihn, ohne zu zögern, in die Flammen.
«Was war das?», fragte Gary.
«Bloß diese Axon-Angelegenheit, die ist ja längst erledigt.»
«Hat Dad nun eigentlich die Hälfte des Geldes an Orfic Midland geschickt?»
«Er hat mich darum gebeten, aber ich hab's noch nicht geschafft. Diese Unmengen von Versicherungsformularen halten mich einfach zu sehr auf.»
Gary lachte. «Pass bloß auf, dass die Zweitausendfünfhundert keine Löcher in deine Tasche brennen», sagte er und verschwand nach oben.
Denise putzte sich die Nase und ging in die Küche, um Kartoffeln zu schälen.
Enid folgte ihr. «Nur für alle Fälle», sagte sie, «bitte sieh zu, dass genug für Chip da ist. Er hat gesagt, er komme spätestens heute Nachmittag.»
«Ich glaube, ganz offiziell ist es jetzt Abend», sagte Denise.
«Wie auch immer, ich möchte viele Kartoffeln.»
Alle Küchenmesser ihrer Mutter waren buttermesserstumpf. Denise griff auf einen Karottenschäler zurück. «Hat Dad dir je erzählt, warum er damals nicht mit Orfic Midland nach Little Rock gegangen ist?»
«Nein», sagte Enid mit Nachdruck. «Warum?»
«Hat mich bloß mal interessiert.»
«Er hatte ja schon zugesagt. Und, Denise, finanziell gesehen hätte es für uns enorm viel ausgemacht. Seine Pension wäre, bloß durch die zwei Jahre, nahezu doppelt so hoch gewesen. Dann stünden wir jetzt erheblich besser da. Er hatte mir gesagt, er werde es tun, er hatte mir zugestimmt, dass es richtig sei, und dann kommt er drei Abende später nach Hause und erklärt, er habe es sich anders überlegt und gekündigt.»
Denise blickte in die Augen, die im Fenster über der Spüle undeutlich gespiegelt waren. «Und er hat dir nie gesagt, warum.»
«Na ja, er konnte diese Wroths nicht ausstehen. Ich glaube, von denen trennten ihn Welten. Aber mit mir darüber gesprochen hat er nicht. Er bespricht sich nie mit mir. Er entscheidet einfach. Selbst wenn es auf ein finanzielles Desaster hinausläuft — er fällt seine Entscheidung, und damit basta.»
Da öffneten sie sich, die Schleusen. Denise ließ Kartoffel und Schäler in die Spüle fallen. Sie dachte an die Kapseln im Adventskalender, dachte, dass sie ihr vielleicht helfen würden, die Tränen so lange einzudämmen, bis sie die Stadt verlassen hätte, doch sie war zu weit von dem Versteck entfernt. Es erwischte sie, kalt und wehrlos, in der Küche.
«Liebes, was ist denn?», fragte Enid.
Eine Zeit lang gab es keine Denise in der Küche, nur Rotz und Wasser und Reue. Sie kniete auf dem Putzlappen vor der Spüle. Kleine klitschnasse Kleenexbäusche umgaben sie. Sie vermied es, zu ihrer Mutter aufzusehen, die neben ihr auf einem Stuhl saß und sie mit trockenen Taschentüchern versorgte.