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Die Tilton Ledge war spiegelglatt und stockfinster. Im Briefkasten fand Chip einen Umschlag, der außer ein paar Zeilen von Enid, in denen sie sich über Alfreds moralisches Versagen beklagte («er sitzt Tag für Tag von morgens bis abends in diesem Sessel»), ein ziemlich ausführliches, aus der Philadelphia ausgeschnittenes Porträt von Denise mit einer speichelleckerischen Kritik ihres Restaurants, Märe Scuro, und einem ganzseitigen Glamourphoto der jungen Geschäftsführerin enthielt. Das Foto, auf dem Denise nur Jeans und ein Top trug, brachte vor allem ihre muskulösen Schultern und die samtige Haut ihrer Brust zur Geltung («Sehr jung und sehr begabt: Lambert in ihrer Küche» lautete die Bildunterschrift). Natürlich, dachte Chip bitter: Mädchen als Objekt, genau dem Scheiß, mit den Zeitschriften Auflage machten. Vor ein paar Jahren hatten Enids Briefe stets auch den einen oder anderen verzweifelten Satz über Denise und deren scheiternde Ehe enthalten, mit doppelt unterstrichenen Ausrufen wie Er ist zu ALT für sie! stets gefolgt von einem Passus über Chips Anstellung am D — College, den sie reich mit Adjektiven wie stolz und glücklich schmückte, und obwohl er wusste, dass Enid es meisterhaft verstand, ihre Kinder gegeneinander auszuspielen, und ihr Lob für gewöhnlich zweischneidig war, ärgerte es ihn doch, dass eine so kluge und prinzipienfeste Frau wie Denise ihren Körper für Werbezwecke hergab. Er warf den Zeitungsausschnitt in den Mülleimer. Dann schlug er den Samstagsteil der Sunday Times Wochenendausgabe auf und blätterte — ja, er war inkonsequent, ja, er war sich dessen bewusst — im Magazin, um seine müden Augen vielleicht auf irgendeiner Dessous- oder Bademoden-Anzeige ausruhen zu können. Da er jedoch nicht fündig wurde, begann er den Literaturteil zu lesen, in dem auf Seite elf die Memoiren einer Vendia O'Fallon, Daddys Girl, als «erstaunlich», «mutig» und «zutiefst überzeugend» bezeichnet wurden. Der Name Vendia O'Fallon kam relativ selten vor, aber da Chip keine Ahnung gehabt hatte, dass Vendia unter die Schriftsteller gegangen war, weigerte er sich, Daddys Girl als ihr Werk anzuerkennen, bis er gegen Ende der Rezension auf einen Satz stieß, der mit den Worten anfing: «O'Fallon, die am D — College lehrt…»

Er klappte den Literaturteil zu und öffnete eine Flasche Wein.

Theoretisch waren sie beide, er und Vendia, Anwärter auf einen Lehrstuhl im Fachbereich Text-Artefakte, praktisch jedoch war der Fachbereich schon jetzt überbesetzt. Dass Vendia zwischen New York und dem College pendelte (und somit die unausgesprochene Forderung der College-Leitung missachtete, der Lehrkörper solle vor Ort wohnen), dass sie wichtige Konferenzen schwänzte und jeden Mumpitz unterrichtete, waren für Chip stete Quellen der Beruhigung gewesen. Was die Liste wissenschaftlicher Publikationen, das Ansehen bei den Studenten und Jim Levitons Protektion anging, hatte er immer noch die Nase vorn; trotzdem merkte er jetzt, dass zwei Gläser Wein keine Wirkung auf ihn hatten.

Er goss sich gerade das vierte ein, als sein Telefon klingelte. Es war Jim Levitons Frau Jackie. «Ich wollte Sie nur wissen lassen», sagte sie, «dass Jim über den Berg ist.»

«War er denn krank?»

«Na ja, er ruht sich jetzt aus. Wir sind im St. Mary's.»

«Was ist passiert?»

«Chip, ich habe ihn gefragt, ob er meint, dass er wieder Tennis spielen kann, und wissen Sie was? Er hat genickt! Ich habe gesagt, dass ich Sie anrufen würde, und er hat genickt, ja, er will wieder Tennis spielen. Seine Motorik scheint vollkommen normal zu sein. Vollkommen — normal. Und geistig ist er auch wieder da, das ist das Allerwichtigste. Das ist die eigentlich gute Nachricht, Chip. Sein Blick ist klar. Er ist ganz der Alte.»

«Jackie, hatte er einen Schlaganfall?»

«Die Rehabilitation wird ein bisschen dauern. Er ist ja seit heute im Ruhestand, wie Sie wissen, in meinen Augen ein Segen, Chip. Jetzt können wir das eine oder andere ändern, und in drei Jahren — na ja, drei Jahre wird er nicht brauchen, bis er wieder auf dem Damm ist. Am Ende gehen wir noch mit Vorsprung durchs Ziel. Sein Blick ist so klar, Chip. Er ist ganz der Alte!»

Chip lehnte die Stirn ans Küchenfenster und drehte den Kopf zur Seite, sodass sein Lid das kalte, feuchte Glas berührte. Er wusste, was er machen würde.

«Ganz der alte, gute Jim!», sagte Jackie.

Am Donnerstag darauf lud Chip Melissa abends zu sich ein, bekochte sie und schlief mit ihr auf seiner roten Chaiselongue. Dieses Möbel hatte es ihm einst, als es finanziell noch etwas weniger selbstmörderisch gewesen war, einer spontanen Eingebung zu folgen und mal eben achthundert Dollar auszugeben, in einem Antiquitätenladen angetan. Die Rückenlehne war erotisch provozierend angewinkelt, die ausstaffierte Schulterpartie zurückgeworfen, das Rückgrat nach hinten durchgedrückt; das Polster von Brust und Bauch sah aus, als würde es jeden Augenblick die Stoffknöpfe sprengen, die kreuzweise darauf angeordnet waren. Mitten in ihrer ersten Umklammerung hatte Chip sich für eine Sekunde entschuldigt, um das Licht in der Küche auszuschalten und aufs Klo zu gehen. Zurück im Wohnzimmer, fand er Melissa ausgestreckt auf der Chaiselongue, nur noch mit der Hose ihres karierten Polyester-Herrenanzugs bekleidet. Im schummrigen Licht hätte man sie für einen unbehaarten, vollbusigen Mann halten können. Chip, der die Schwulentheorie aller Schwulenpraxis eindeutig vorzog, gefiel der Anzug überhaupt nicht, und er wünschte, sie hätte ihn nicht getragen. Auch nachdem sie die Hose ausgezogen hatte, blieb ein Rest von Geschlechtsverwirrung an ihrem Körper haften, ganz zu schweigen von dem scharfen Schweißgeruch, jenem Fluch aller synthetischen Stoffe. Aus ihrer Unterhose jedoch, zu seiner Erleichterung war sie zart und hauchdünn — eindeutig weiblich also — , sprang ihm ein zärtliches, warmes Kaninchen entgegen, ein temperamentvolles, feuchtes, autonomes warmes Tier. Es war beinahe zu viel für ihn. In den letzten beiden Nächten hatte er nicht einmal zwei Stunden geschlafen, sein Kopf war voll Wein und sein Bauch voll Luft (aus welchem Grund er zum Abendessen ausgerechnet Cassoulet gekocht hatte, wusste er nicht mehr, wahrscheinlich gab es keinen), und er machte sich Sorgen, dass er womöglich die Haustür nicht abgeschlossen hatte oder dass irgendwo ein Spalt in den Rollos war, dass einer seiner Nachbarn vorbeikommen, die Tür unversperrt finden oder durchs Fenster schauen und sehen würde, wie er schamlos Paragraph I, II und VI eines Regelwerks verletzte, das er selbst mit aufgestellt hatte. Im Großen und Ganzen war es für ihn eine Nacht der Anspannung und mühevollen Konzentration, von kleinen Attacken gedrosselter Lust durchsetzt, aber wenigstens schien es für Melissa aufregend und romantisch zu sein. Stunde um Stunde lag auf ihrem Gesicht ein breites, Fältchen werfendes U von einem Lächeln.

Es war Chips Vorschlag — nach einem zweiten, nicht weniger anstrengenden Rendezvous in der Tilton Ledge — , die einwöchigen Thanksgiving-Ferien fern vom Campus zu verbringen und ein Häuschen auf Cape Cod zu mieten, wo sie sich weder beobachtet noch verurteilt fühlen müssten, und es war Melissas Vorschlag, als sie im Schutz der Dunkelheit durch D — s selten benutztes Osttor fuhren, in Middletown anzuhalten und einem ihrer ehemaligen Schulfreunde von der Wesleyan High-School Drogen abzukaufen. Chip wartete vor dem eindrucksvoll wetterfesten Ökologie-Gebäude des Colleges und trommelte auf das Lenkrad des Nissan, trommelte, bis seine Finger pochten, denn schließlich war es entscheidend, nicht darüber nachzudenken, was er hier tat. Er hatte Berge unkorrigierter Referate und Examensarbeiten hinter sich gelassen, und er hatte es noch immer nicht geschafft, Jim Leviton in der Reha-Klinik zu besuchen. Dass Jim sein Sprachvermögen eingebüßt hatte und jetzt hilflos Kiefer und Lippen strapazierte, um Wörter zu formen — dass er, falls man den Kollegen, die bei ihm gewesen waren, Glauben schenken konnte, ein verbitterter, böser Mann geworden war — , steigerte nicht gerade Chips Motivation, ihm seine Aufwartung zu machen. Er war in einer Verfassung, in der er am liebsten alles vermied, was Gefühle auslösen konnte. Und so hämmerte er aufs Steuer, bis seine Finger steif waren und brannten und Melissa aus dem Ökologie-Gebäude kam. Sie brachte den Geruch von Holzkohle und gefrorenen Blumenbeeten mit ins Auto, den Geruch einer Affäre im Spätherbst. Sie legte Chip eine goldene Tablette auf die Handfläche, mit einer Prägung, die wie das alte Logo der Midland Pacific Railroad aussah