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«So vieles, was einem wichtig erscheint», sagte Enid unerwartet nüchtern, «erweist sich am Ende als überhaupt nicht wichtig.»

«Aber manches bleibt wichtig», sagte Denise.

Enid blickte schwermütig auf die ungeschälten Kartoffeln neben der Spüle. «Er wird nicht wieder gesund, oder.»

Denise war froh, dass ihre Mutter zu glauben schien, sie habe um Alfreds Gesundheit geweint. «Ich denke nicht», sagte sie.

«Es liegt wahrscheinlich nicht an der Medizin, oder.»

«Nein.»

«Und es hat wahrscheinlich keinen Sinn, nach Philadelphia zu fahren», sagte Enid, «wenn er nicht mal einfache Anweisungen befolgen kann.»

«Stimmt. Das hat wahrscheinlich keinen Sinn.» «Denise, was sollen wir nur machen?»

«Ich weiß es nicht.»

«Dass irgendwas nicht in Ordnung war, habe ich schon heute Morgen gemerkt», sagte Enid. «Wenn du den Brief vor drei Monaten gefunden hättest, wäre Dad vor Wut explodiert. Aber du hast es ja selbst gesehen. Er hat keine Miene verzogen.»

«Tut mir Leid, dass ich dich so in Verlegenheit gebracht habe.»

«Das ist vollkommen gleichgültig. Er hat überhaupt nicht begriffen, worum es ging.»

«Es tut mir trotzdem Leid.»

Auf dem Herd fing der Deckel eines Topfs weißer Bohnen zu klappern an. Enid stand auf, um die Hitze herunterzudrehen. Immer noch kniend, sagte Denise: «Ich glaube, da ist etwas für dich im Adventskalender.»

«Nein, Gary hat das letzte Dingelchen schon angeheftet.»

«In der ‹Vierundzwanzig›. Da könnte etwas für dich drin sein.»

«Was denn?»

«Weiß nicht. Sieh doch einfach mal nach.»

Sie hörte, wie sich die Schritte ihrer Mutter entfernten und wieder näherten. Obwohl das Muster des Putzlappens kompliziert war, meinte Denise, es sich vom bloßen Daraufstarren bald eingeprägt zu haben.

«Wie sind die denn dahin gekommen?», fragte Enid.

«Keine Ahnung.»

«Hast du sie da reingesteckt?»

«Das ist ein Geheimnis.»

«Also hast du sie da reingesteckt.»

«Nein.»

Enid legte die Pillen auf die Arbeitsplatte, trat zwei Schritte zurück und betrachtete sie skeptisch. «Wer immer das war, er hat es bestimmt gut gemeint», sagte sie. «Aber ich möchte sie nicht in meinem Haus haben.»

«Das ist sicher eine gute Entscheidung.»

«Ich möchte entweder richtig leben oder gar nicht.»

Enid schob die Pillen mit der rechten Hand in ihre linke. Sie warf sie in den Abfallzerkleinerer, drehte das Wasser auf und zerkleinerte sie.

«Und was heißt für dich richtig leben?», fragte Denise, als der Lärm verhallte.

«Ich möchte, dass wir alle ein letztes Mal zusammen Weihnachten feiern.»

Gary, geduscht und rasiert und in seinem aristokratischen Stil gekleidet, betrat die Küche gerade rechtzeitig, um diese Erklärung aufzuschnappen.

«Gib dich lieber mit vier von fünfen zufrieden», sagte er und öffnete die Hausbar. «Was ist los mit Denise?»

«Sie sorgt sich furchtbar um Dad.»

«Na, das wird auch Zeit», sagte Gary. «Dazu besteht reichlich Anlass.»

Denise sammelte ihre Kleenexbäusche auf. «Schenk mir auch was ein, und möglichst viel», sagte sie.

«Ich dachte, wir könnten heute Abend Beas Sekt trinken!», sagte Enid.

«Nein», sagte Denise.

«Nein», sagte Gary.

«Dann heben wir ihn auf, für den Fall, dass Chip kommt», sagte Enid. «Also, was macht Dad eigentlich so lange da oben?»

«Er ist nicht oben», sagte Gary.

«Bist du sicher?»

«Ja, bin ich.»

«Al?», rief Enid. «AL?»

Gase knackten im unbeaufsichtigten Kaminfeuer. Weiße Bohnen köchelten bei mittlerer Hitze; aus den Heizungsschlitzen entwich warme Luft. Draußen auf der schneebedeckten Straße drehten die Räder eines Wagens durch.

«Denise», sagte Enid. «Schau doch mal nach, ob er im Keller ist.»

Denise fragte nicht Warum ich? obwohl sie es gern getan hätte. Sie stellte sich an die Kellertreppe und rief nach ihrem Vater. Unten war Licht, und aus der Werkstatt hörte sie ein rätselhaftes leises Rascheln.

«Dad?», rief sie noch einmal.

Keine Antwort.

Ihre Angst beim Hinabsteigen in den Keller war wie eine Angst aus jenem unglücklichen Jahr ihrer Kindheit, als sie sich ein Haustier gewünscht und einen Käfig mit zwei Hamstern bekommen hatte. Ein Hund oder eine Katze hätte womöglich Enids Stoffe beschädigt, aber diese kleinen Hamster, ein Geschwisterpaar aus einem Wurf im Driblett-Haus, waren erlaubt.

Jeden Morgen, wenn Denise in den Keller ging, um ihnen Kügelchen und frisches Wasser zu geben, fürchtete sie sich davor zu entdecken, mit welcher über Nacht ausgeheckten Teufelei die Tiere sie, und speziell sie, diesmal quälen würden: einem Nest blinder, zappelnder, inzestroter Nachkommen vielleicht oder einem einzigen großen, in einem verzweifelten, sinnlosen Akt aufgeschichteten Haufen Zedernspäne, neben dem das Elternpaar zitternd auf dem nackten Metall des Käfigbodens hockte, aufgedunsen und verlegen, weil es alle seine Jungen aufgefressen hatte, was auch im Maul eines Hamsters keinen angenehmen Nachgeschmack hinterlassen haben konnte.

Die Tür zu Alfreds Werkstatt war geschlossen. Sie klopfte an. «Dad?»

Alfreds Antwort kam prompt, ein angestrengtes, ersticktes Bellen: «Nicht reinkommen!»

Hinter der Tür schabte irgendetwas Hartes über Beton.

«Dad? Was machst du da?»

«Nicht reinkommen, hab ich gesagt!»

Tja, sie hatte das Gewehr gesehen, und sie dachte: Klar, dass ausgerechnet ich hier unten bin. Sie dachte: Und ich habe keine Ahnung, was jetzt zu tun ist.

«Dad, ich muss reinkommen.»

«Denise — »

«Ich komme rein.»

Sie öffnete die Tür. Der Raum war gleißend hell. Mit einem einzigen Blick erfasste sie die alte, farbbekleckste Tagesdecke auf dem Boden und den alten Mann, der mit angehobener Hüfte und zitternden Knien auf dem Rücken lag, die weit aufgerissenen Augen starr auf die Unterseite der Werkbank gerichtet, während er mit dem großen Plastikklistier rang, das er sich in den After gesteckt hatte.

«Huch, Entschuldigung!», sagte sie und drehte sich, die Hände in der Luft, um.

Alfred atmete rasselnd und sagte nichts.

Sie zog die Tür halb hinter sich zu und füllte ihre Lungen. Oben klingelte es. Durch die Wände und die Decke hörte sie Schritte auf dem Weg vor dem Haus.

«Das ist er, das ist er!», rief Enid.

Lauter Gesang — «Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen» — ließ ihre Seifenblase platzen.

Denise gesellte sich zu ihrer Mutter und ihrem Bruder an der offenen Haustür. Bekannte Gesichter drängten sich auf der verschneiten Veranda zu einer Traube zusammen, Dale Driblett, Honey Driblett, Steve und Ashley Driblett, Kirby Root mit mehreren Töchtern und Bürstenschnitt-Schwiegersöhnen und der gesamte Person-Clan. Enid schnappte sich Denise und Gary und drückte sie fester an sich, und von der Stimmung des Augenblicks getragen, wippte sie auf den Ballen. «Lauf und hol Dad», sagte sie. «Er liebt die Weihnachtssänger so.»

«Dad hat zu tun», sagte Denise.

War es nicht das Barmherzigste, den Mann, der so rücksichtsvoll gewesen war, ihre Privatsphäre zu schützen, und nie um etwas anderes gebeten hatte, als dass man die seine achtete, ganz für sich allein leiden zu lassen, damit er sich, zu all seinem Leid, nicht auch noch schämen musste? Hatte er sich nicht mit jeder Frage, die er ihr nie gestellt hatte, das Recht erworben, von allen unbequemen Fragen, die sie ihm jetzt stellen könnte, verschont zu werden? Etwa: Was willst du mit dem Klistier, Dad?

Die Weihnachtssänger schienen in erster Linie für Denise zu singen. Enid wiegte sich zu der Melodie, Gary hatte feuchte Augen, doch Denise kam es vor, als wäre eigentlich sie gemeint. Gern wäre sie hier oben geblieben, beim heitereren Teil ihrer Familie. Sie wusste nicht, was es mit dem Unglück auf sich hatte, dass es ihr so viel Loyalität abverlangte. Als aber Kirby Root, der den Chor der Methodistenkirche in Chiltsville leitete, die letzte Strophe des Lieds nahtlos in «Vom Himmel hoch, da komm ich her» übergehen ließ, fragte sie sich, ob sie es sich nicht ein bisschen zu leicht machte. Alfred wollte allein gelassen werden? Schön, wie angenehm für sie! Dann konnte sie ja getrost nach Philadelphia zurückkehren, ihr eigenes Leben führen und tun, was er ihr geraten hatte. Es war ihm peinlich, mit einer Plastikspritze im Hintern erwischt zu werden? Schön, das traf sich gut! Ihr war es nämlich auch verdammt peinlich!