Sie machte sich von ihrer Mutter los, winkte den Nachbarn zum Abschied zu und ging wieder in den Keller. Die Tür zur Werkstatt stand noch immer halb offen. «Dad?»
«Nicht reinkommen!»
«Es tut mir Leid», sagte sie, «aber es geht nicht anders.»
«Es war nie meine Absicht, dich da hineinzuziehen. Nicht deine Sorge.»
«Ich weiß. Aber ich muss trotzdem reinkommen.»
Seine Haltung war fast unverändert, nur dass er sich inzwischen ein altes Badehandtuch zwischen die Beine gestopft hatte. Sie kniete sich inmitten der Scheiß- und Pissgerüche neben ihn und legte ihm eine Hand auf die bebende Schulter. «Es tut mir Leid», sagte sie.
Sein Gesicht war schweißgebadet. Seine Augen glänzten vor Irrsinn. «Such ein Telefon», sagte er, «und ruf den Bezirksleiter an.»
Die große Erleuchtung war Chip am Dienstagmorgen gegen sechs gekommen, als er in fast völliger Dunkelheit eine mit litauischem Kies belegte Straße zwischen den winzigen Ortschaften Neravai und Miskiniai, ein paar Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, entlangmarschierte.
Fünfzehn Stunden zuvor war er aus dem Flughafen gewankt und beinahe von Jonas, Aidaris und Gitanas, die ihren Ford Stomper schwungvoll an die Bordsteinkante lenkten, über den Haufen gefahren worden. Die drei Männer waren auf der Straße nach Ignalina unterwegs und schon fast aus Vilnius heraus gewesen, als sie im Radio gehört hatten, dass der Flughafen geschlossen worden war. Auf der Stelle hatten sie kehrtgemacht und waren zurückgefahren, um den armseligen Amerikaner zu retten. Der Laderaum des Stomper war mit Gepäck und Computern und telefonischer Ausrüstung voll gestopft, doch indem sie zwei Koffer auf dem Dach festschnallten, schafften sie Platz für Chip und seine Tasche. «Wir bringen Sie zu einem kleinen Grenzübergang», sagte Gitanas. «Die errichten im Augenblick Sperren auf allen großen Straßen. Wenn da ein Stomper vorbeikommt, fangen sie an zu sabbern.»
Dann war Jonas mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf situationsgemäß miserablen Straßen gen Westen gebraust, die Städte Jieznas und Alytus weiträumig umfahrend. Die Stunden waren im Stockdustern und unter Geschüttel dahingegangen. Nirgends sahen sie eine funktionierende Straßenlampe oder einen Polizeiwagen. Jonas und Aidaris saßen vorn und hörten Metallica, und Gitanas betätigte immer wieder die Tasten seines Funktelefons, in der schwachen Hoffnung, dass es Transbaltikum Mobil, dessen Hauptaktionär er, zumindest nominell, immer noch war, trotz des landesweiten Stromausfalls und trotz der Mobilisierung der litauischen Streitkräfte gelungen sein könnte, seine Relaisstationen wieder flottzumachen.
«Das Ganze ist eine Katastrophe für Vitkunas», sagte Gitanas. «Dass er die Streitkräfte mobilisiert, rückt ihn bloß noch mehr in die Nähe der Sowjets. Truppen auf den Straßen und keine Elektrizität: Damit macht sich eine Regierung beim litauischen Volk nicht gerade beliebt.»
«Wird eigentlich auch geschossen?», fragte Chip.
«Nein, das meiste ist reine Show. Eine zur Posse umgeschriebene Tragödie.»
Gegen Mitternacht bog der Stomper in der Nähe von Lazdijai, der letzten größeren Stadt vor der polnischen Grenze, um eine scharfe Kurve und fuhr an einem entgegenkommenden Konvoi dreier Jeeps vorbei. Jonas beschleunigte auf dem Knüppeldamm und beriet sich auf Litauisch mit Gitanas. Die Gletschermoränenlandschaft war hügelig, aber unbewaldet. Deshalb konnte man, wenn man sich umdrehte, sehen, dass zwei der Jeeps wendeten und die Verfolgung des Stomper aufnahmen. Ebenso konnte, wer in den Jeeps saß, sehen, dass Jonas jäh nach links auf eine Schotterstraße abbog und an der weißen Fläche eines zugefrorenen Sees entlangraste.
«Die hängen wir ab», versicherte Gitanas Chip, ungefähr zwei Sekunden bevor Jonas, in einer Ellbogenkurve, mit dem Stomper von der Straße abhob.
Wir haben einen Unfall, dachte Chip, während der Wagen durch die Luft flog. Er empfand im Rückblick große Sympathie für gute Bodenhaftung, niedrige Schwerpunkte und geradlinige Formen der Beschleunigung. Es war Zeit für stilles Nachdenken und Zeit zum Zähne zusammenbeißen und dann überhaupt keine Zeit, nur Aufprall nach Aufprall, Geräusch auf Geräusch. Der Stomper probierte verschiedene Varianten der Senkrechten aus — neunzig, zweihundertsiebzig, dreihundertsechzig, einhundert-achtzig Grad — und blieb schließlich, mit abgewürgtem Motor und eingeschalteten Scheinwerfern, auf seiner linken Seite liegen. Chips Hüften und Brust fühlten sich an, als hätten sie von seinem Becken- und Schultergurt ernsthafte Quetschungen davongetragen. Ansonsten schien er, genau wie Jonas und Aidans, unversehrt.
Gitanas war hin und her geschleudert und von herumfliegenden Gepäckstücken hart getroffen worden. Er blutete aus Wunden an Kinn und Stirn. Eindringlich redete er mit Jonas, den er offenbar aufforderte, die Lichter auszumachen, doch es war schon zu spät. Auf der Straße hinter ihnen wurde lautstark heruntergeschaltet. Die Verfolgerjeeps hielten an der Ellbogenkurve, und uniformierte Männer mit Skimasken drängten ins Freie.
«Polizisten mit Skimasken», sagte Chip. «Ich gebe mir alle Mühe, das irgendwie positiv auszulegen.»
Der Stomper war in einen überfrorenen Sumpf gestürzt. In den sich kreuzenden Fernlichtkegeln zweier Jeeps umstellten ihn acht oder zehn maskierte «Polizeibeamte» und befahlen den Insassen auszusteigen. Als Chip die Tür über sich aufstieß, kam er sich wie ein Schachtelteufel vor. Jonas und Aidaris wurden die Waffen abgenommen. Alles, was sich im Wagen befand, landete auf der mit verharschtem Schnee und abgebrochenen Schilfhalmen bedeckten Erde. Ein «Polizist» drückte Chip eine Gewehrmündung in die Wange, und Chip empfing einen Ein-Wort-Befehl, den Gitanas übersetzte: «Er fordert Sie höflich auf, Ihre Kleider abzulegen.»
Der Tod, jener Verwandte aus Übersee, jener aus dem Mund stinkende Fremdenlegionär, war plötzlich ganz in der Nähe. Chip fürchtete sich ziemlich vor dem Gewehr. Seine Hände zitterten und wurden taub; er musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um sie dazu zu bewegen, Reißverschlüsse und Knöpfe zu öffnen. Es hatte ganz den Anschein, als ob seine hochwertige Lederkleidung daran schuld war, dass man gerade ihn für diese Demütigung auserkoren hatte. Niemand interessierte sich für Gitanas' rote Motocross-Jacke oder Jonas' Jeans. Um Chips Hose und Jacke hingegen drängten sich die maskierten «Polizisten» und befühlten deren feine Narbung. Mit seltsam dekontextualisierten Lippen Frost aus O-förmigen Mündern hauchend, prüften sie die Biegsamkeit seiner linken Stiefelsohle.
Ein Aufschrei war zu hören, als ein Bündel US- amerikanischer Devisen aus dem Stiefel fiel. Und wieder bohrte sich die Gewehrmündung in Chips Wange. Eisige Finger ertasteten den großen Umschlag mit Bargeld unter seinem T-Shirt. Die «Polizisten» prüften auch sein Portemonnaie, stahlen jedoch weder seine Litas noch seine Kreditkarten. Das Einzige, was sie wollten, waren Dollars.
Gitanas, an dessen Kopf an etlichen Stellen das Blut gerann, legte beim Hauptmann der «Polizisten» Protest ein. Die nun folgende Auseinandersetzung, in der Gitanas und der Hauptmann wiederholt auf Chip zeigten und die Wörter «Dollar» und «Amerikaner» gebrauchten, endete, als der Hauptmann seine Pistole auf Gitanas' blutige Stirn richtete und Gitanas die Hände hob, um einzuräumen, dass an dem, was der Hauptmann gesagt hatte, durchaus etwas dran sei.