Chips Schließmuskel hatte sich indessen so gelockert, dass man fast von bedingungsloser Kapitulation sprechen konnte. Es schien ihm jedoch von großer Wichtigkeit, dass er an sich hielt, und so stand er in Socken und Unterhose da und presste, so gut es mit seinen zitternden Händen ging, seine Pobacken zusammen. Presste und presste und bekämpfte die Krämpfe manuell. Wie lächerlich das aussah, war ihm egal.
Auch im Gepäck fanden die «Polizisten» vieles, was sich stehlen ließ. Chips Tasche wurde auf dem verschneiten Boden ausgeleert und sein Hab und Gut durchwühlt. Er und Gitanas mussten zuschauen, wie die «Polizisten» die Sitzpolster des Stomper aufschlitzten, Löcher in den Wagenboden hackten und Gitanas' Vorräte an Bargeld und Zigaretten entdeckten.
«Was ist hier eigentlich der Vorwand?», fragte Chip, immer noch heftig zitternd, aber auf dem besten Weg, die eigentlich entscheidende Schlacht zu gewinnen.
«Man wirft uns vor, Devisen und Tabak geschmuggelt zu haben», sagte Gitanas.
«Wer wirft uns das vor?»
«Ich fürchte, sie sind genau das, wonach sie aussehen», sagte Gitanas. «Mit anderen Worten: staatliche Polizisten mit Skimasken. Heute Nacht herrscht offenbar im ganzen Land so eine Art Fastnachtsatmosphäre. Eine Art Alles-ist-erlaubt-Stimmung.»
Es war ein Uhr morgens, als die «Polizisten» endlich in ihre Jeeps stiegen und davonrasten. Chip und Gitanas und Jonas und Aidaris ließen sie mit tiefgefrorenen Füßen, einem zertrümmerten Stomper, nassen Kleidern und beschädigtem Gepäck zurück.
Immerhin habe ich mir nicht in die Hosen geschissen, dachte Chip.
Er hatte noch seinen Pass und die $ 2.000 in der T-Shirt-Tasche, die die «Polizisten» übersehen hatten. Auch seine Sportschuhe, ein Paar weite Jeans, sein gutes Tweedsakko und sein Lieblingspullover waren noch da; all das zog er jetzt hastig an.
«Das dürfte das Ende meiner Karriere als krimineller Kriegsherr sein», bemerkte Gitanas. «Jedenfalls habe ich auf dem Gebiet keine weiteren Ambitionen.»
Mit Feuerzeugen inspizierten Jonas und Aidaris das Fahrgestell des Stomper. Aidaris verkündete das Urteil, Chip zuliebe, auf Englisch: «Truck fucked up.»
Gitanas bot Chip an, ihn zum Grenzübergang an der Straße nach Sejny, fünfzehn Kilometer Richtung Westen, zu begleiten, doch Chip war allzu bewusst, dass sich seine Freunde, wären sie nicht seinetwegen zum Flughafen zurückgefahren, vermutlich längst mit intaktem Auto und intakten Portemonnaies bei ihren Verwandten in Ignalina in Sicherheit befunden hätten.
«He», sagte Gitanas schulterzuckend. «Vielleicht wären wir auf der Straße nach Ignalina erschossen worden. Gut möglich, dass Sie uns das Leben gerettet haben.»
«Wagen im Arsch», wiederholte Aidaris mit Lust und Frust.
«Also dann, bis bald in New York», sagte Chip.
Gitanas setzte sich auf einen Siebzehn-Zoll-Monitor mit eingeschlagenem Bildschirm. Vorsichtig betastete er seine blutige Stirn. «Ja, genau. New York.»
«Sie können bei mir wohnen.»
«Ich überleg's mir.»
«Tun Sie's doch einfach», sagte Chip fast verzagt.
«Ich bin Litauer», sagte Gitanas.
Chip fühlte sich in einem Maße verletzt, enttäuscht und im Stich gelassen, wie es die Situation gar nicht rechtfertigte. Aber er beherrschte sich. Er nahm eine Straßenkarte, ein Feuerzeug, einen Apfel und die aufrichtigen guten Wünsche der Litauer entgegen und machte sich auf den Weg in die Dunkelheit.
Kaum war er allein, ging es ihm besser. Je länger er marschierte, desto mehr wusste er die Vorzüge seiner Jeans und Sportschuhe, im Vergleich zu seinen Stiefeln und Lederhosen, zu schätzen. Sein Schritt war leichter, sein Gang beschwingter; am liebsten wäre er die Straße hinuntergehüpft. Wie angenehm es war, in diesen Sportschuhen hier draußen unterwegs zu sein!
Aber seine große Erleuchtung war das noch nicht. Die große Erleuchtung kam ihm ein paar Kilometer vor der polnischen Grenze. Er horchte angestrengt, ob nicht irgendwelche mordlustigen Hofhunde in der ihn umgebenden Finsternis von der Kette gelassen worden waren, er streckte die Arme nach vorn, er kam sich mehr als nur ein bisschen lächerlich vor, da fiel ihm plötzlich Gitanas' Bemerkung wieder ein: eine zur Posse umgeschriebene Tragödie. Mit einem Schlag verstand er, warum niemand, nicht einmal er selbst, sein Drehbuch gemocht hatte: Er hatte einen Thriller geschrieben, wo eine Posse am Platz gewesen wäre.
Allmählich umfing ihn schwaches morgendliches Dämmerlicht. In New York hatte er so lange an den ersten dreißig Seiten von «Akademische Würden» geschliffen und gefeilt, bis er sich nahezu bildhaft an jedes einzelne Detail erinnern konnte, und nun rückte er, während sich der baltische Himmel aufhellte, seiner geistigen Rekonstruktion dieser Seiten mit einem geistigen Rotstift zu Leibe, machte hier einen kleinen Schnitt, fügte dort ein wenig mehr Emphase oder eine Hyperbel hinzu, und endlich wurden die Szenen in seinem Kopf zu dem, was sie schon immer hatten sein wollen: lächerlich. Der tragische BILL QUAINTENCE wurde zum Narren.
Chip beschleunigte seine Schritte, als hätte er es eilig, an einen Schreibtisch zu kommen, an dem er auf der Stelle mit der Überarbeitung seines Texts würde beginnen können. Er gelangte auf eine Anhöhe und sah die, ohne Strom, völlig im Dunkeln liegende litauische Stadt Eisiskes sowie, in weiterer Ferne jenseits der Grenze, ein paar Straßenlaternen in Polen. Zwei Zugpferde, die Köpfe über einen Stacheldrahtzaun reckend, wieherten ihm optimistisch zu.
Er sagte laut: «Zieh es ins Lächerliche. Zieh es ins Lächerliche.»
Zwei litauische Zollbeamte und zwei «Polizisten» bewachten den winzigen Grenzübergang. Sie gaben Chip seinen Pass ohne das dicke Bündel Litas zurück, das er zwischen die Seiten gesteckt hatte. Aus keinem erkennbaren Grund außer kleinlicher Grausamkeit ließen sie ihn mehrere Stunden lang in einem überheizten Raum warten, während Betonmischfahrzeuge und Hühnerlaster und Radler kamen und wieder fuhren. Es war später Vormittag, als er die Grenze nach Polen zu Fuß überqueren durfte. In Sejny, ein paar Kilometer die Straße hinunter, kaufte er Zlotys und mit den Zlotys etwas zu essen. Die Läden waren gut bestückt, es war Weihnachtszeit. Die Männer der Stadt waren alt und sahen aus wie der Papst.
Mit drei LKWs und einem Taxi erreichte er am Mittwoch gegen Mittag den Warschauer Flughafen. Das erstaunlich apfelbäckige Personal am Ticketschalter der polnischen Fluggesellschaft LOT war hoch erfreut, ihn bedienen zu dürfen. LOT hatte für die Feiertage zusätzliche Maschinen bereitgestellt, um für die zigtausend polnischen Gastarbeiter, die aus dem Westen zu ihren Familien zurückfliegen wollten, gewappnet zu sein, und viele der Maschinen Richtung Westen waren nicht ausgebucht. Alle rotwangigen Mitarbeiterinnen trugen kleine Hüte wie Tambourmajoretten. Sie nahmen Chips Bargeld, gaben ihm ein Ticket und sagten Schnell.
So schnell er konnte, lief er zum Gate und stieg in eine 767, die dann vier Stunden lang auf der Startbahn stand, während Mechaniker ein möglicherweise fehlerhaftes Instrument im Cockpit überprüften und schließlich, widerstrebend, auswechselten.
Die Flugroute, nonstop, war ein großer Kreis, der sich bei der großen polnischen Stadt Chicago schloss. Chip schlief immer wieder ein, um zu vergessen, dass er Denise $ 20.500 schuldete, alle seine Kreditkarten überzogen waren und er weder einen Job noch die Aussicht hatte, einen zu finden.
Die gute Nachricht, nachdem er in Chicago den Zoll passiert hatte, war, dass zwei Autovermietungsfirmen noch geöffnet hatten. Die schlechte Nachricht, die er nach einer halben Stunde Schlangestehen erhielt, war, dass Leute mit überzogenen Kreditkarten keine Autos mieten konnten.
Er ging die Liste aller Fluggesellschaften im Telefonbuch durch, bis er eine fand — Prairie Hopper, nie gehört — , die am nächsten Morgen um sieben noch einen Platz in einer Maschine nach St. Jude hatte.