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Inzwischen war es zu spät geworden, um in St. Jude anzurufen. Er suchte sich ein abgelegenes Stück Flughafenteppich zum Schlafen. Er begriff nicht, was sich zugetragen hatte. Er fühlte sich wie ein Stück Papier, das, einst mit verständlichen Sätzen beschrieben, in die Waschmaschine geraten war. Er fühlte sich aufgeraut, gebleicht und an den Falzen durchgescheuert. Im Halbschlaf träumte er von einzelnen Mündern und körperlosen Augen hinter Skimasken. Er hatte völlig aus dem Blick verloren, was er wollte, und da ein Mensch schließlich war, was er wollte, konnte man sagen: Er hatte sich selbst aus dem Blick verloren.

Wie merkwürdig daher, dass der alte Mann, der ihm am nächsten Morgen um halb zehn in St. Jude die Tür öffnete, offenbar genau wusste, wer er war.

Ein Stechpalmenkranz hing an der Tür. Schneehaufen und Besenspuren in gleichmäßigen Abständen säumten den Weg zum Haus. Die mittelwestliche Straße erschien dem Reisenden wie ein Wunderland aus Wohlstand und Eichen und erstaunlich viel verschenktem Platz. Der Reisende sah nicht, wie ein solcher Ort in einer Welt der Litauens und Polens existieren könnte. Dass der Graben, der zwischen diesen verschiedenen ökonomischen Voltspannungen lag, nicht einfach durch einen Energietransfer überbrückt werden konnte, war ein Beweis für den isolierenden Effekt politischer Grenzen. Die alte Straße mit ihrem Eichenholzrauch und den schneebedeckten, säuberlich gestutzten Hecken und vereisten Traufen kam ihm gefährdet vor. Wie ein Trugbild. Wie eine außergewöhnlich lebhafte Erinnerung an etwas, das geliebt und schon gestorben war.

«Na!», sagte Alfred mit leuchtendem Gesicht, als er Chips Hand in beide Hände nahm. «Wen haben wir denn da!»

Enid, die immer wieder Chips Namen rief, versuchte sich ins Bild zu drängeln, doch Alfred ließ Chips Hand nicht los. Er sagte es noch zweimaclass="underline" «Wen haben wir denn da! Wen haben wir denn da!»

«Al, nun lass ihn doch reinkommen und die Tür zumachen», sagte Enid.

Chip stand zaudernd auf der Schwelle. Die Welt draußen war schwarz und weiß und grau und rein gefegt von frischer, kalter Luft; das verwunschene Innere des Hauses war voller Gegenstände und Gerüche und Farben, schwüler Luft, raumgreifender Persönlichkeiten. Er hatte Angst einzutreten.

«Komm rein, komm rein», quiekte Enid, «und mach die Tür zu.»

Um sich vor allen magischen Einflüssen zu schützen, sprach er im Stillen eine Zauberformel. Ich bleibe drei Tage und fahre dann nach New York zurück, ich suche mir einen Job, ich lege mindestens fünfhundert Dollar im Monat auf die Seite, bis ich schuldenfrei bin, und jeden Abend arbeite ich an meinem Drehbuch.

Die magische Kraft dieser Worte beschwörend, die jetzt alles waren, was er hatte, die erbärmliche Summe seiner selbst, trat er über die Schwelle.

«Du liebe Zeit, wie kratzig du bist, und wie du riechst», sagte Enid, als sie ihn küsste. «Und wo ist dein Koffer?»

«Der steht an einer Schotterstraße im westlichen Litauen.»

«Ich bin bloß froh, dass du heil nach Hause gekommen bist.»

Nirgends im ganzen litauischen Staatsgebiet gab es ein Zimmer wie das Lambert'sche Wohnzimmer. Nur in diesem Teil der Welt fand man so prächtige Wollteppiche, so große und solide gebaute und üppig gepolsterte Möbel in einem Zimmer, das ansonsten so schlicht und gewöhnlich war. Das Licht in den Holzrahmenfenstern, obwohl grau, strahlte Prärie-Gelassenheit aus; hier war im Umkreis von tausend Kilometern kein Meer, das die Lufthülle hätte stören können. Und der Wuchs der älteren Eichen, die sich nach diesem Himmel streckten, hatte einen Schmiss, eine Wildheit und einen Stolz noch aus einer Zeit lange vor der dauerhaften Besiedlung; die Kursivschrift ihrer Zweige erzählte von einer nicht eingezäunten Welt.

All das nahm Chip zwischen zwei Herzschlägen in sich auf. Den Kontinent, sein Heimatland. Im ganzen Wohnzimmer verstreut waren Nester geöffneter Geschenke, kleine Häufchen Geschenkbänder und Papierfetzen und Weihnachtsaufkleber. Zu Füßen des Kaminsessels, den Alfred stets für sich beanspruchte, kniete, neben dem größten Geschenkenest, Denise.

«Denise, sieh nur, wer da ist», sagte Enid.

Mit gesenkten Lidern stand Denise, wie aus Pflichtgefühl, auf und durchquerte das Zimmer. Doch sobald sie die Arme um ihn gelegt und er sie (immer aufs Neue überrascht, wie groß sie war) an sich gedrückt hatte, wollte sie ihn nicht mehr loslassen. Sie klammerte sich an ihn — küsste seinen Hals, sah ihm in die Augen und dankte ihm.

Gary kam herüber und umarmte Chip hölzern, mit abgewandtem Gesicht. «Hätte nicht gedacht, dass du's schaffen würdest», sagte er.

«Ich auch nicht», sagte Chip.

«Na!», sagte Alfred wieder und blickte ihn voller Verwunderung an.

«Gary muss um elf Uhr weg», sagte Enid, «aber wir können noch alle zusammen frühstücken. Du machst dich schnell frisch, und Denise und ich kümmern uns ums Frühstück. Ach, das ist genau das, was ich mir gewünscht habe», sagte sie, als sie in die Küche eilte. «Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe!»

Gary wandte sich, mit seiner Ich-Blödmann-Grimasse, Chip zu: «Da hörst du's», sagte er. «Das schönste Weihnachtsgeschenk, das sie je bekommen hat.»

«Ich glaube, sie meint, dass wir alle fünf zusammen sind», sagte Denise.

«Tja, dann sollte sie's lieber schnell genießen», sagte Gary. «Sie schuldet mir nämlich noch ein Gespräch, und ich bestehe auf Zahlung.»

Von seinem eigenen Körper losgelöst, trottete Chip ihm hinterher und fragte sich, was er wohl vorhatte. Er nahm einen Aluminiumhocker aus der Dusche im unteren Bad. Der Wasserschwall war stark und heiß. Seine Eindrücke hatten etwas so Frisches, dass er sie entweder sein Leben lang in Erinnerung behalten oder auf der Stelle vergessen würde. Ein Gehirn konnte nur eine bestimmte Anzahl von Eindrücken verkraften, bevor es die Fähigkeit verlor, sie zu entschlüsseln, sie in eine verständliche Form und Reihenfolge zu bringen. Seine beinahe schlaflose Nacht auf einem Stück Flughafenteppich zum Beispiel lebte noch in ihm fort und wollte verarbeitet werden. Und hier nun eine heiße Dusche am Weihnachtsmorgen. Hier die vertrauten braunen Kacheln der Dusche. Die Kacheln, wie jeder andere materielle Bestandteil des Hauses, waren davon durchdrungen, dass sie Enid und Alfred gehörten, waren gesättigt mit einer Aura Lambert'schen Familieneigentums. Das Haus war einem Körper ähnlicher als einem Gebäude — weicher, sterblicher und organischer.

Denise' Shampoo hatte die angenehmen, feinen Duftnoten des westlichen Spätkapitalismus. In den Sekunden, die Chip zum Einseifen seiner Haare brauchte, vergaß er, wo er war. Vergaß den Kontinent, vergaß das Jahr, vergaß die Tageszeit, vergaß die Umstände. Unter der Dusche war sein Gehirn ein Fisch- oder Amphibiengehirn, registrierte Eindrücke, reagierte auf den Moment. Es fehlte nicht viel, und er hätte Todesangst verspürt. Gleichzeitig fühlte er sich ganz passabel. Er hatte Appetit auf Frühstück und, insbesondere, Durst auf Kaffee.

Mit einem Handtuch um die Hüften schaute er kurz ins Wohnzimmer, wo Alfred sofort auf die Füße sprang. Der Anblick von Alfreds plötzlich gealtertem Gesicht, dessen fortschreitendem Verfall, den Rötungen und Asymmetrien, schnitten Chip ins Fleisch wie eine Bullenpeitsche.

«Na!», sagte Alfred. «Das ging ja schnell.»

«Kann ich mir ein paar Sachen zum Anziehen von dir ausleihen?»

«Das überlasse ich dir.»

Oben, im Kleiderschrank seines Vaters, fand Chip die alten Nassrasur-Utensilien, Schuhlöffel, elektrischen Rasierapparate, Schuhleisten und Schlipshaken allesamt an ihren angestammten Plätzen. In den fünfzehnhundert Tagen seit seinem letzten Besuch in diesem Haus hatten sie hier Stunde für Stunde ihren Dienst getan. Einen Moment lang war Chip wütend (wie hätte er es auch nicht sein können?), dass seine Eltern niemals umgezogen waren. Dass sie einfach beschlossen hatten, hier zu bleiben und zu warten.