Er nahm sich Unterwäsche, Socken, eine Wollhose, ein weißes Hemd und eine graue Strickjacke und trug die Sachen in das Zimmer, das er in den Jahren zwischen Denise' Ankunft in der Familie und Garys Aufbruch ins College mit seinem Bruder geteilt hatte. Gary hatte eine winzige Reisetasche auf «sein» Bett gestellt und war dabei, sie zu packen.
«Ich weiß nicht, ob du's gemerkt hast», sagte er, «aber Dad ist in ziemlich schlechter Verfassung.» «Ja, hab ich gemerkt.»
Gary legte eine kleine Schachtel auf Chips Nachttisch. Es war eine Schachtel Munition — .20er Schrotkugeln.
«Er hat sie sich zusammen mit dem Gewehr in die Werkstatt geholt», sagte Gary. «Hab ich heute Morgen entdeckt, und ich dachte mir, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.»
Chip musterte die Schachtel und sagte instinktiv: «Ist das nicht eher Dads Sache?»
«Das habe ich gestern auch erst gedacht», sagte Gary. «Aber wenn er es wirklich tun will, hat er ja noch andere Möglichkeiten. Heute Nacht sollen es um die minus 18 Grad werden. Da kann er doch mit einer Flasche Whiskey nach draußen gehen. Ich möchte nicht, dass Mom ihn mit weggeblasenem Kopf findet.»
Darauf wusste Chip nichts zu erwidern. Schweigend zog er die Kleider des alten Mannes an. Hemd und Hose waren wunderbar sauber und passten ihm unerwartet gut. Als er auch die Strickjacke anhatte, war er überrascht, dass seine Hände nicht zu zittern begannen, überrascht, ein so junges Gesicht im Spiegel zu sehen.
«Und was hast du in letzter Zeit so getrieben?», fragte Gary.
«Ich habe einem litauischen Freund geholfen, westliche Investoren zu betrügen.»
«Mein Gott, Chip. Das kann nicht dein Ernst sein.»
Alles andere auf der Welt mochte fremd sein, doch Garys Herablassung ärgerte Chip wie eh und je.
«Streng moralisch betrachtet», sagte er, «habe ich mehr Verständnis für Litauen als für amerikanische Investoren.»
«Du willst ein Bolschewik sein?», fragte Gary und machte den Reißverschluss seiner Tasche zu. «Gut, dann sei ein Bolschewik. Aber ruf nicht bei mir an, wenn du verhaftet wirst.»
«Das läge mir sowieso fern», sagte Chip.
«Seid ihr zwei da oben so weit, dass wir frühstücken können?», trällerte Enid auf halber Treppe.
Sie hatte eine festliche Leinendecke aufgelegt. Die Tischmitte war mit einem Gesteck aus Kiefernzapfen, weißer und grüner Stechpalme, roten Kerzen und silbernen Glöckchen geschmückt. Denise trug das Essen auf: texanische Pampelmuse, Rühreier, Speck, außerdem Stollen und Brot, die sie selbst gebacken hatte.
Die Schneedecke verstärkte das helle Prärielicht.
Nach alter Familiensitte saß Gary allein auf einer Seite des Tisches. Auf der anderen Seite saßen Chip und Denise — Denise neben Enid, Chip neben Alfred.
«Fröhliche, fröhliche, fröhliche Weihnachten!», sagte Enid und schaute jedem ihrer Kinder der Reihe nach in die Augen.
Alfred, den Kopf gesenkt, aß bereits.
Auch Gary fing, mit einem Blick auf seine Armbanduhr, hastig zu essen an.
Chip hatte fast vergessen, wie trinkbar der Kaffee in diesen Breiten war. Denise fragte ihn, wie er nach Hause gekommen sei. Er erzählte ihr die Geschichte, nur den bewaffneten Raubüberfall ließ er aus.
Mit missbilligendem Stirnrunzeln verfolgte Enid jede von Garys Bewegungen. «Nun schling doch nicht so», sagte sie. «Du musst erst um elf los.»
«Eigentlich habe ich Viertel vor gesagt», sagte Gary. «Jetzt ist es kurz nach halb, und wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen.»
«Nun sind wir endlich alle zusammen», sagte Enid. «Lass uns das in Ruhe genießen.»
Gary legte seine Gabel hin. «Ich bin schon seit Montag hier, Mutter und seitdem warte ich darauf, dass wir endlich alle zusammen sind — Denise ist seit Dienstagmorgen hier. Wenn Chip zu sehr damit beschäftigt war, amerikanische Investoren zu betrügen um zu uns zu stoßen, ist das nicht meine Schuld.«
«Ich habe gerade erklärt, warum ich erst jetzt gekommen bin», sagte Chip. «Falls du zugehört hast.»
«Tja vielleicht hättest du etwas eher losfahren sollen.»
«Was meint er mit betrügen?», fragte Enid. «Ich dachte, deine Arbeit hätte etwas mit Computern zu tun gehabt.»
«Das erkläre ich dir später, Mom.»
«Nein!», sagte Gary, «erklär es ihr jetzt.»
«Gary!», sagte Denise.
«Nein, tut mir Leid», sagte Gary und warf seine Serviette auf den Tisch wie einen Fehdehandschuh. «Ich hab genug von dieser Familie! Ich habe das ewige Warten satt. Ich will ein paar Antworten, und zwar sofort.»
«Meine Arbeit hatte sehr wohl etwas mit Computern zu tun», sagte Chip. «Aber was Gary sagt, stimmt auch — das Ziel war streng genommen, amerikanische Investoren zu betrügen.»
«Das kann ich überhaupt nicht gutheißen», sagte Enid.
«Schon klar», sagte Chip. «Obwohl das alles ein bisschen komplizierter ist, als du dir vielleicht — »
«Was ist so kompliziert daran, die Gesetze zu achten?»
«Gary, Herrgott noch mal», sagte Denise seufzend. «Heute ist Weihnachten, ja?»
«Und du bist eine Diebin», sagte Gary, auf sie umschwenkend.
«Du weißt genau, wovon ich rede. Du hast dich bei jemandem ins Zimmer geschlichen und etwas genommen, das dir nicht — »
«Entschuldige mal», sagte Denise aufgebracht, «ich habe etwas, das seinem rechtmäßigen Besitzer gestohlen wurde, zurück — »
«Blödsinn, Blödsinn, Blödsinn!» «Oh, das höre ich mir nicht länger an», jammerte Enid. «Nicht am Weihnachtsmorgen!»
«Nein, Mutter, tut mir Leid, du gehst nirgendwohin», sagte Gary. «Wir bleiben alle schön hier sitzen und führen auf der Stelle unser kleines Gespräch.»
Alfred lächelte Chip verschwörerisch an und deutete auf die anderen. «Siehst du, was ich auszustehen habe?»
Chip verzog das Gesicht zu einem Faksimile des Verstehens und der Zustimmung.
«Wie lange bleibst du, Chip?», fragte Gary.
«Drei Tage.»
«Und Denise, du fährst — »
«Sonntag, Gary. Ich fahre am Sonntag.»
«Gut, was passiert also am Montag, Mom? Wie willst du am Montag mit diesem Haus fertig werden?»
«Darüber denke ich am Montag nach.»
Alfred, immer noch lächelnd, fragte Chip, wovon Gary eigentlich rede.
«Keine Ahnung, Dad.»
«Glaubst du wirklich, dass ihr nach Philadelphia kommt?», fragte Gary. «Glaubst du wirklich, dass mit Korrektal alles wieder gut wird?»
«Nein, Gary, das glaube ich nicht», sagte Enid.
Gary schien ihre Antwort gar nicht zu hören. «Dad, komm, tu mir mal einen Gefallen», sagte er. «Leg die rechte Hand auf deine linke Schulter.»
«Gary, hör auf damit», sagte Denise.
Alfred lehnte sich zu Chip hinüber und sagte in vertraulichem Ton: «Was will er?»
«Er möchte, dass du die rechte Hand auf deine linke Schulter legst.»
«Das ist doch blanker Unsinn.»
«Dad?», sagte Gary. «Komm schon, rechte Hand, linke Schulter.»
«Hör auf», sagte Denise.
«Los geht's, Dad. Rechte Hand, linke Schulter. Schaffst du das? Willst du uns nicht zeigen, wie gut du einfachste Anweisungen befolgen kannst? Komm! Rechte Hand. Linke Schulter.»
Alfred schüttelte den Kopf. «Eine Zweizimmerwohnung mit Küche und Bad, mehr brauchen wir nicht.»
«Ich möchte aber keine Zweizimmerwohnung, Al», sagte Enid.
Der alte Mann stieß sich mit dem Stuhl vom Tisch ab und wandte sich noch einmal an Chip. Er sagte: «Du siehst, die Sache hat so ihre Tücken.»
Als er aufstand, gaben seine Beine nach, und er fiel hin, seinen Teller und sein Platzdeckchen und seine Kaffeetasse und seine Untertasse mitreißend. Das Geschepper hätte der letzte Takt einer Symphonie sein können. Er lag inmitten der Trümmer auf der Seite wie ein verwundeter Gladiator, ein gestürztes Pferd.