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Chip kniete sich hin und half ihm, sich aufzusetzen, während Denise in die Küche eilte.

«Es ist Viertel vor elf», sagte Gary, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert. «Bevor ich abfahre, fasse ich zusammen. Dad ist geistig verwirrt und inkontinent. Mom kann ihn nicht ohne fremde Hilfe hier im Haus behalten, Hilfe, die sie nach eigenem Bekunden auch dann nicht haben wollte, wenn sie das Geld dafür hätte. Korrektal ist eindeutig keine Option, und deshalb möchte ich jetzt wissen, was ihr zu tun gedenkt. Jetzt, Mutter. Ich möchte es jetzt wissen.»

Alfred legte seine zitternden Hände auf Chips Schultern und betrachtete verwundert die Zimmereinrichtung. Obwohl er sehr erregt war, lächelte er. «Meine Frage», sagte er dann. «Ist, wem gehört dieses Haus? Wer kümmert sich hier um alles?»

«Es gehört dir, Dad.»

Alfred schüttelte den Kopf, als decke sich das nicht mit den Tatsachen, so wie er sie verstand. Gary verlangte eine Antwort.

«Wir werden es wohl mit dem Pillenurlaub versuchen müssen», sagte Enid.

«Prima, tut das», sagte Gary. «Bringt ihn ins Krankenhaus, und dann warten wir ab, ob sie ihn da je wieder rauslassen. Und wenn du schon mal je dabei bist, kannst du selbst auch gleich so einen Pillenurlaub machen.»

«Gary, sie hat sie weggeworfen», sagte Denise, die mit einem Schwamm am Boden kniete. «Sie hat sie in den Abfallzerkleinerer geschüttet. Also reg dich ab.»

«Na, hoffentlich hast du was dabei gelernt, Mutter.» Chip, in den Kleidern des alten Mannes, konnte der Unterhaltung nicht folgen. Die Hände seines Vaters lasteten schwer auf seinen Schultern. Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde klammerte sich jemand an ihn, als wäre er ein Mensch mit Substanz, als wäre etwas an ihm dran. In Wirklichkeit war so wenig an ihm dran, dass er nicht einmal zu sagen vermochte, ob seine Schwester und sein Vater sich in ihm täuschten. Er kam sich vor, als wäre sein Bewusstsein von allen individuellen Merkmalen kahl geschoren und, metempsychotisch, in den Körper eines verlässlichen Sohnes, eines vertrauenswürdigen Bruders hineintransplantiert worden…

Gary war neben Alfred in die Hocke gegangen. «Dad», sagte er, «es tut mir Leid, dass es so enden musste. Ich hab dich lieb, und wir sehen uns bald wieder.»

«Na. Wi dulst. Jau», antwortete Alfred. Er senkte den Kopf und blickte mit offenkundiger Paranoia um sich.

«Und du, mein nichtsnutziger Bruder.» Gary breitete seine Finger klauenartig auf Chips Kopf aus, eine anscheinend liebevoll gemeinte Geste. «Ich zähle darauf, dass du hier ordentlich mit anpackst.»

«Ich werd mir Mühe geben», sagte Chip, mit weniger Ironie als geplant.

Gary stand auf. «Es tut mir Leid, dass ich dein Frühstück ruiniert habe, Mom. Aber mir jedenfalls ist wohler, nachdem ich das mal losgeworden bin.»

«Warum du damit nicht bis nach den Feiertagen warten konntest», murmelte Enid.

Gary küsste sie auf die Wange. «Ruf gleich morgen früh Hedgpeth an. Und dann erzähl mir, was ihr besprochen habt. Ich werde das ganz genau kontrollieren.»

Chip war schleierhaft, wie Gary in dieser Situation — Alfred auf dem Fußboden und Enids Weihnachtsfrühstück in Trümmern — einfach so aus dem Haus spazieren konnte, doch als Gary sich den Mantel anzog und seine Tasche und Enids Tasche mit den Geschenken für Philadelphia hochnahm, zeigte er sich von seiner rationalsten Seite, seine Worte hatten etwas Förmlich-Hohles, und sein Blick war ausweichend, denn er hatte Angst. Hinter der Kaltfront dieses wortlosen Aufbruchs sah Chip es ganz deutlich: Sein Bruder hatte Angst.

Sobald die Haustür ins Schloss gefallen war, machte Alfred sich auf den Weg ins Bad.

«Da können wir ja alle froh sein», sagte Denise, «dass Gary das mal loswerden konnte und ihm jetzt so viel wohler ist.»

«Nein, er hat Recht», sagte Enid, die Augen trübselig auf das Stechpalmengesteck in der Tischmitte gerichtet. «Es muss sich etwas ändern.»

Nach dem Frühstück gingen die Stunden in der Kränklichkeit, dem siechen Warten eines großen Feiertags dahin. Chip hatte vor Erschöpfung Mühe, sich warm zu halten, sein Gesicht aber glühte von der Hitze aus der Küche und dem Duft des bratenden Truthahns, der das Haus einhüllte. Sobald er in den Gesichtskreis seines Vaters geriet, huschte ein Lächeln des Wieder-Erkennens und der Freude über Alfreds Züge. Dieses Lächeln hätte bedeuten können, dass Alfred Chip verwechselte, wenn er nicht jedes Mal seinen Namen gerufen hätte. Chip wurde von dem alten Mann ganz offensichtlich geliebt. Die längste Zeit seines Lebens hatte er sich mit Alfred in den Haaren gelegen und Alfred gegrollt und den Stachel von Alfreds Missbilligung gespürt, und jetzt waren seine persönlichen Niederlagen und politischen Ansichten eher noch extremer als früher, und trotzdem war es Gary, der mit dem alten Mann stritt, und Chip, der das Gesicht des alten Mannes leuchten ließ.

Beim Abendessen raffte er sich auf, mehr oder weniger ausführlich zu schildern, was er in Litauen erlebt hatte. Ebenso gut hätte er die Steuervorschriften herunterleiern können. Denise, normalerweise der Inbegriff der aufmerksamen Zuhörerin, hatte alle Hände voll damit zu tun, Alfred beim Essen behilflich zu sein, und Enid achtete die ganze Zeit nur auf die Unzulänglichkeiten ihres Mannes. Bei jedem herunterfallenden Bissen, jeder Entgleisung zuckte sie zusammen, oder sie seufzte oder schüttelte den Kopf. Es war nicht zu übersehen, dass Alfred ihr das Leben nun zur Hölle machte.

Ich bin die am wenigsten unglückliche Person an diesem Tisch, dachte Chip.

Er half Denise beim Abwasch, während Enid mit ihren Enkeln telefonierte und Alfred schlafen ging.

«Seit wann ist Dad schon so?», fragte er Denise.

«So wie jetzt? Seit gestern. Aber vorher war es nicht viel besser.»

Chip warf sich einen schweren Mantel von Alfred über und nahm eine Zigarette mit hinaus. Es war kälter, als er es in Vilnius je erlebt hatte. Wind rüttelte an den dicken braunen Blättern, die immer noch an den Eichen hingen, jenen konservativsten aller Bäume; Schnee quietschte unter seinen Füßen. Um die minus 18 Grad heute Nacht, hatte Gary gesagt. Da kann er doch mit einer Flasche Whiskey nach draußen gehen. Chip wollte über die wichtige Selbstmordfrage nachdenken, solange eine Zigarette seine geistige Leistungsfähigkeit steigerte, doch seine Bronchien und Nasenhöhlen standen bereits unter einem solchen Kälteschock, dass der Schock des Nikotins kaum noch zu Buche schlug, und der Schmerz in seinen Fingern und Ohren — diese verfluchten Niete — wurde rasch unerträglich. Er gab auf und hastete ins Haus, just in dem Moment, als Denise aufbrach.

«Wo willst du hin?», fragte Chip. «Bin bald zurück.»

Enid, im Wohnzimmer am Kamin, biss sich in heller Verzweiflung auf die Lippen. «Du hast deine Geschenke noch gar nicht aufgemacht», sagte sie.

«Morgen früh, mal sehen», sagte Chip. «Ich habe bestimmt nichts für dich, was dir gefallen wird.» «Es ist nett, dass du überhaupt was für mich hast.» Enid schüttelte den Kopf. «Das war nicht das Weihnachten, das ich mir erhofft hatte. Auf einmal ist Dad zu nichts mehr imstande. Zu gar nichts.»

«Jetzt soll er erst mal seinen Pillenurlaub machen, vielleicht hilft ihm das ja.»

Enid las offenbar schlechte Prognosen aus den Flammen. «Kannst du nicht eine Woche bleiben, so lange, bis ich ihn ins Krankenhaus gebracht habe?»

Chips Hand wanderte zu dem Niet in seinem Ohr wie zu einem Glücksbringer. Ihm war, als wäre er ein Kind aus Grimms Märchen, das sich von der Aussicht auf Wärme und Essen in ein verwunschenes Haus hatte locken lassen; und gleich würde ihn die Hexe in einen Käfig sperren, mästen und verspeisen.

Er wiederholte die Zauberformel, die er an der Eingangstür gesprochen hatte. «Ich kann nur drei Tage bleiben», sagte er. «Ich muss so bald wie möglich wieder zu arbeiten anfangen. Ich schulde Denise Geld, das ich ihr unbedingt zurückzahlen möchte.»