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«Nur eine Woche», sagte die Hexe. «Nur eine Woche, bis wir sehen, wie es ihm im Krankenhaus geht.»

«Ich glaube nicht, Mom. Ich muss zurück.» Enids trübe Stimmung verdüsterte sich weiter, aber zu überraschen schien seine Weigerung sie nicht. «Dann ist das wohl meine Angelegenheit», sagte sie. «Das habe ich irgendwie immer geahnt.»

Sie zog sich ins Arbeitszimmer zurück, und Chip legte noch ein paar Holzscheite nach. Kalte Zugluft drang durch die Fenster und bewegte sacht die offenen Vorhänge. Der Heizkessel lief fast ununterbrochen. Die Welt war kälter und leerer, als Chip gedacht hatte — die Erwachsenen waren fort.

Gegen elf kam Denise herein. Sie stank nach Zigarettenrauch und sah zu zwei Dritteln erfroren aus. Sie winkte ihm zu und wollte sofort nach oben gehen, doch Chip bestand darauf, dass sie sich zu ihm ans Feuer setzte. Denise kniete sich hin, neigte, unentwegt schniefend, den Kopf und streckte die Hände aus. Sie hielt den Blick starr auf das Feuer gerichtet, als müsse sie sich zwingen, ihn nicht anzuschauen. Mit einem feuchten Kleenex- Fetzen putzte sie sich die Nase.

«Wo warst du?», fragte er.

«Spazieren.»

«Langer Spaziergang.»

«M-hm.»

«Du hast mir ein paar E-Mails geschickt, die ich gelöscht habe, bevor ich sie richtig lesen konnte.»

«Oh.»

«Also, was ist los?»

Sie schüttelte den Kopf. «Einfach alles.»

«Am Montag hatte ich fast dreißigtausend Dollar in bar. Davon wollte ich dir vierundzwanzigtausend geben. Aber dann sind wir von uniformierten Männern mit Skimasken ausgeraubt worden. So absurd das klingen mag.»

«Ich möchte dir die Schulden gern erlassen», sagte Denise.

Chips Hand wanderte wieder zu dem Niet. «Ich habe vor, dir mindestens vierhundert im Monat zurückzuzahlen, bis alle Schulden getilgt sind, einschließlich der Zinsen. Das hat für mich Priorität. Absolute Priorität.»

Seine Schwester drehte sich um und sah zu ihm hoch. Ihre Augen waren blutunterlaufen, Stirn und Nase rot wie die eines Neugeborenen. «Ich habe gesagt, ich erlasse dir die Schulden. Du schuldest mir nichts.»

«Nett von dir», sagte er rasch und wandte den Blick ab. «Aber ich zahle dir das Geld trotzdem zurück.»

«Nein», sagte sie. «Ich werde dein Geld nicht annehmen. Ich erlasse dir deine Schulden. Weißt du, was das heißt: jemandem etwas erlassen?»

Mit ihrer seltsamen Stimmung, mit ihren unerwarteten Worten machte sie Chip nervös. Er zog an seinem Niet und sagte: «Komm, Denise. Bitte. Hab wenigstens so viel Respekt vor mir, dass du mich meine Schulden zurückzahlen lässt. Ich weiß, dass ich ein Arsch gewesen bin. Aber ich will nicht mein Leben lang ein Arsch sein.»

«Ich möchte dir deine Schulden erlassen», sagte sie, «Ehrlich. Komm.» Chip lächelte gequält. «Du musst mich bezahlen lassen.»

«Kannst du's nicht ertragen, dass dir einer was erlässt?»

«Nein», sagte er. «Im Grunde nicht. Nein. Es ist in jeder Hinsicht besser, wenn ich dir alles zurückzahle.»

Immer noch kniend, beugte Denise sich vor, verschränkte die Arme und rollte sich zu einer Olive, einem Ei, einer Zwiebel zusammen. Aus dem Innern dieses kugelförmigen Etwas kam eine leise Stimme. «Begreifst du denn nicht, was für einen Riesengefallen du mir tun würdest, wenn ich dir die Schulden erlassen dürfte? Begreifst du nicht, dass es mir schwer fällt, dich darum zu bitten? Begreifst du nicht, dass der einzige andere Gefallen, um den ich dich je gebeten habe, der war, über Weihnachten hierher zu kommen? Begreifst du nicht, dass es mir nicht darum geht, dich zu kränken? Begreifst du nicht, dass ich nie an deinem Willen gezweifelt habe, mir das Geld wiederzugeben, und mir völlig klar ist, dass ich dich um etwas sehr Schwieriges bitte? Begreifst du nicht, dass ich dich nie um etwas so Schwieriges bitten würde, wenn es nicht wirklich, wirklich, wirklich nötig wäre?»

Chip blickte auf die zitternde menschliche Kugel zu seinen Füßen. «Erzähl mir, was los ist.»

«Ich hab nichts als Probleme an allen Fronten», sagte sie.

«Dann ist das jetzt der falsche Moment, um über das Geld zu reden. Vergessen wir's einfach für eine Weile. Erst will ich wissen, was mit dir los ist.»

Immer noch zusammengerollt, bewegte Denise mit Nachdruck den Kopf einmal hin und einmal her. «Ich möchte, dass du jetzt ja sagst. Sag:»

Chip machte eine Geste äußerster Ratlosigkeit. Es ging auf Mitternacht zu, und oben hatte sein Vater zu rumoren begonnen, und vor ihm kauerte seine Schwester, zu einem Ei zusammengerollt, und flehte ihn an, ihn von der Hauptmarter seines Lebens befreien zu dürfen.

«Lass uns morgen darüber reden», sagte er.

«Würde es dir helfen, wenn ich dich um etwas anderes bitte?»

«Morgen, okay?»

«Mom möchte, dass nächste Woche jemand im Haus ist», sagte Denise. «Du könntest eine Woche bleiben und ihr helfen. Das wäre eine Riesenerleichterung für mich. Ich sterbe, wenn ich noch länger als bis Sonntag hier bleiben muss. Ich höre buchstäblich auf zu existieren.»

Chip atmete schwer. Die Tür seines Käfigs schloss sich rasch Die Ahnung, die ihn in der Herrentoilette auf dem Flughafen von Vilnius beschlichen hatte, das Gefühl, dass die Schulden, die er bei Denise hatte, keineswegs eine Last, sondern vielmehr seine letzte Rettung waren, kehrte jetzt als Angst, dass sie ihm erlassen würden, zu ihm zurück. Er hatte unter diesen Schulden gelitten, bis sie den Charakter eines Neuroblastoms angenommen hatten, das so mit seiner Gehirnarchitektur verwachsen war, dass er bezweifelte, die Operation, bei der es herausgeschnitten würde, zu überleben.

Er fragte sich, ob die letzte Maschine an die Ostküste wohl schon weg war oder ob er heute Nacht noch flüchten konnte.

«Wie wär's, wenn wir den Betrag halbieren?», sagte er. «Dann schulde ich dir nur noch zehn. Wie wär's, wenn wir beide bis Mittwoch bleiben?»

«Nein.»

«Wenn ich ja sage, hörst du dann auf, so komisch zu sein, und machst ein fröhlicheres Gesicht?»

«Sag erst ja.»

Oben rief Alfred nach Chip. «Chip, kannst du mir helfen?»

«Er ruft auch nach dir, wenn du nicht da bist», sagte Denise.

Die Fensterscheiben wackelten im Wind. Wann waren seine Eltern zu den Kindern geworden, die früh ins Bett gingen und oben an der Treppe standen und um Hilfe riefen? Wann war das passiert?

«Chip», rief Alfred. «Ich komme mit dieser Decke nicht zurecht. KANNST DU MIR HELFEN?»

Das Haus wackelte, und die Sturmfenster ratterten, und die Zugluft wurde stärker; und auf einmal wehte Chip die Erinnerung an die Vorhänge an. Er erinnerte sich an den Tag, als er St. Jude verlassen hatte, um aufs College zu gehen. Er erinnerte sich, wie er die handgeschnitzten österreichischen Schachfiguren eingepackt hatte, ein Geschenk seiner Eltern zum Highschool-Abschluss, und die sechsbändige Lincoln-Biographie von Sandburg, die er zum achtzehnten Geburtstag bekommen hatte, und den neuen marineblauen Blazer von Brooks Brothers («Wie ein fescher junger Arzt siehst du darin aus!», hatte Enid bedeutungsvoll gesagt), und stapelweise weiße T-Shirts und weiße Jockey-Unterhosen und weiße lange Unterhosen, und ein Foto von Denise als Fünftklässlerin in einem Plexiglasrahmen, und dieselbe Hudson-Bay-Decke, die schon Alfred, vier Jahrzehnte früher, als Studienanfänger mit an die Universität von Kansas genommen hatte, und Lederhandschuhe mit wollenem Innenfutter, die ebenfalls aus Alfreds tiefster Kansas-Vergangenheit stammten, und ein Paar dicker Thermovorhänge, die Alfred bei Sears für ihn gekauft hatte. Beim Lesen der Informationsbroschüren von Chips College war Alfred der Satz Die Winter in New England können sehr kalt sein ins Auge gesprungen. Die Vorhänge von Sears bestanden aus einem synthetischen, rosabraunen, auf der Rückseite mit Schaumgummi beschichteten Stoff. Sie waren schwer und unhandlich und steif. «In einer kalten Nacht wirst du sie zu schätzen wissen», sagte er zu Chip. «Du wirst staunen, wie wenig Zugluft sie durchlassen.» Doch Chips Zimmergenosse war ein Privatschulprodukt namens Roan McCorkle, der schon bald Daumenabdrücke auf dem Foto von Denise hinterließ, allem Anschein nach mit Vaseline. Roan lachte über die Vorhänge, und Chip lachte auch. Er legte sie in den Karton zurück und verstaute den Karton im Keller des Wohnheims, wo sie in den nächsten vier Jahren Schimmel ansetzten. Er hatte gar nichts gegen die Vorhänge. Es waren bloß Vorhänge, die dasselbe wollten wie alle anderen Vorhänge auch — gut hängen; nach besten Kräften das Licht aussperren; weder zu klein noch zu groß für das Fenster sein, das abzudunkeln der ganze Zweck ihres Daseins war; am Abend in diese und am Morgen in die andere Richtung gezogen werden; sacht in den Brisen wehen, die an einem Sommerabend den Regen ankündigen; viel benutzt werden und wenig auffallen. Nicht nur im Mittelwesten, sondern auch an der Ostküste gab es zahllose Krankenhäuser und Altenheime und Billigmotels, in denen genau solchen braunen, mit Schaumgummi verstärkten Vorhängen ein langes und sinnvolles Leben beschieden gewesen wäre. Es war nicht ihre Schuld, dass sie nicht in ein Studentenwohnheim gehörten. Sie wollten gar nichts Besseres sein; Material und Musterung gaben nicht den geringsten Hinweis auf unziemlichen Ehrgeiz. Sie waren, was sie waren. Ja, als er sie am Vorabend seiner Examensfeier schließlich wieder hervorholte, erschienen ihm ihre zartrosa Stofffalten eher weniger synthetisch und spießig und searshaft, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Sie waren nicht annähernd so peinlich wie gedacht.