«Na!», sagte er schließlich.
Chip rückte einen zweiten Stuhl heran und gab Alfred eine Tasse Eiswasser, auf das er, wie er merkte, tatsächlich Durst hatte. Er nahm einen langen Zug mit dem Strohhalm und gab Chip das Wasser zurück.
«Wo ist deine Mutter?»
Chip stellte die Tasse auf den Boden. «Sie ist heute Morgen mit einer Erkältung aufgewacht. Ich habe ihr gesagt, sie soll im Bett bleiben.»
«Wo wohnt sie jetzt?»
«Sie ist zu Hause. Genau wie vor zwei Tagen.»
Chip hatte ihm bereits erklärt, warum er hier sein musste, und die Erklärung hatte ihm eingeleuchtet, solange er Chips Gesicht sehen und seine Stimme hören konnte, doch sobald Chip fort war, brach die Erklärung in sich zusammen.
Der große schwarze Bastard umkreiste sie beide mit seinem bösen Blick.
«Das hier ist ein Raum für Physiotherapien», sagte Chip. «Wir sind im achten Stock der St.-Luke's-Klinik. Mom hatte hier ihre Fußoperation, weißt du noch?»
«Die Frau da ist ein Bastard», sagte er und streckte den Finger aus.
«Nein, sie ist Physiotherapeutin», sagte Chip, «und sie möchte dir helfen.»
«Nein, guck sie dir doch an. Siehst du nicht, wie sie ist? Siehst du das nicht?»
«Sie ist Physiotherapeutin, Dad.»
«Die was? Sie ist eine?»
Einerseits vertraute er der Klugheit und dem sicheren Auftreten seines so gebildeten Sohnes. Andererseits warf die schwarze Hexe ihm den Blick zu, um ihn vor dem Leid zu warnen, das sie ihm bei der erstbesten Gelegenheit antun würde; eine ungeheure Böswilligkeit lag in ihrer Art, das sah doch ein Blinder. Er war außerstande, den Widerspruch aufzulösen: hier sein Glaube, dass Chip mit Sicherheit Recht hatte, dort seine Überzeugung, dass die Hexe mit Sicherheit keine Physikerin war.
Der Widerspruch weitete sich zu einem bodenlosen Abgrund aus. Alfred starrte mit offenem Mund in die Tiefe. Ein warmes Etwas kroch an seinem Kinn abwärts.
Da griff die Hand irgendeines Bastards nach ihm. Er versuchte, nach dem Bastard zu schlagen, und gerade noch rechtzeitig bemerkte er, dass die Hand zu Chip gehöre. «Ganz ruhig, Dad. Ich wische dir nur das Kinn ab.» «Ach Gott.»
«Möchtest du noch ein bisschen hier sitzen, oder willst du lieber wieder in dein Zimmer?»
«Das stelle ich in dein Ermessen.»
Diese handliche Wendung kam ihm ganz und gar gebrauchsfertig in den Sinn, passender ging's nicht.
«Dann bringe ich dich jetzt zurück.» Chip langte hinter den Stuhl und hantierte dort herum. Offenbar hatte der Stuhl Schalter und Hebel von unfassbarer Komplexität.
«Sieh mal, ob du meinen Gürtel aufmachen kannst», sagte er. «Warte, bis wir in deinem Zimmer sind, da kannst du dann herumlaufen.»
Chip schob ihn vom Gefängnishof herunter und den Gang entlang bis zu seiner Zelle. Alfred kam nicht darüber hinweg, wie luxuriös die Ausstattung war. Wie in einem erstklassigen Hotel, wenn man einmal von den Haltegriffen am Bett und den Fesseln und den Funkgeräten absah, dem Gefangenen-Überwachungssystem.
Chip stellte den Stuhl am Fenster ab, verließ das Zimmer mit einer Styroporkaraffe und kehrte ein paar Minuten später in Begleitung eines hübschen kleinen Mädchens in weißer Jacke wieder zurück.
«Mr. Lambert?», sagte sie. Mit dem lockigen schwarzen Haar und der Nickelbrille war sie hübsch wie Denise, nur eben nicht so groß. «Ich bin Dr. Schulman. Sie erinnern sich vielleicht, wir haben uns gestern kennengelernt.»
«Na!», sagte er, breit lächelnd. Er erinnerte sich an eine Welt, in der es solche Mädchen gab, hübsche kleine Mädchen mit wachen Augen und klugen Gesichtern, eine Welt der Hoffnung.
Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn und beugte sich herab, als wollte sie ihn küssen. Sie erschreckte ihn zu Tode. Fast hätte er sie geschlagen.
«Ich wollte Sie nicht erschrecken», sagte sie. «Ich möchte nur in Ihre Augen sehen. Ist Ihnen das recht?»
Unsicher schaute er zu Chip, aber der starrte das Mädchen an. «Chip!», sagte er.
Chip wandte den Blick von ihr ab. «Ja, Dad?» Na. Jetzt, wo er Chips Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, musste er wohl auch etwas sagen, und was er sagte, war dies: «Richte deiner Mutter aus, dass sie sich über den Schlamassel da unten nicht grämen soll. Ich kümmere mich darum.» «In Ordnung. Ich richte es ihr aus.»
Die geschickten Finger und das sanfte Gesicht des Mädchens waren überall, rings um seinen Kopf herum. Sie bat ihn, eine Faust zu machen, sie kniff und pikte ihn. Sie sprach wie der Fernseher in einem Nachbarraum. «Dad?», sagte Chip. «Ich hab nicht verstanden.»
«Dr. Schulman möchte wissen, ob sie dich ‹Alfred› oder ‹Mr. Lambert› nennen soll. Was ist dir lieber?» Er grinste gequält.»Ich kann nicht folgen.» «Ich glaube, ‹Mr. Lambert› zieht er vor», sagte Chip.
«Mr. Lambert», sagte das Mädchen, «können Sie mir sagen, wo wir hier sind?»
Er schaute wieder zu Chip, dessen Miene erwartungsvoll, aber nicht hilfreich war. Er zeigte aufs Fenster. «Dahinten ist Illinois», sagte er. Sein Sohn und das Mädchen hörten jetzt sehr interessiert zu, und er hatte das Gefühl, er sollte weiterreden. «Da ist ein Fenster», sagte er, «das wäre… wenn man es öffnen könnte… genau, was ich will. Ich konnte den Gürtel nicht aufkriegen. Und dann.»
Er versagte, und er wusste es.
Das Mädchen blickte freundlich zu ihm herab. «Können Sie mir sagen, wer unser Präsident ist?»
Er grinste. Das war eine leichte Frage.
«Na», sagte er. «Sie hat so viel Zeug da unten. Ich bezweifle, dass sie es überhaupt merken würde. Wir sollten das einfach alles wegschmeißen.»
Das Mädchen nickte, als wäre das eine vernünftige Antwort. Dann hob sie beide Hände. Sie war hübsch wie Enid, aber Enid hatte einen Ehering, Enid trug keine Brille, Enid war in letzter Zeit älter geworden, und Enid hätte er wahrscheinlich wieder erkannt, obwohl die Tatsache, dass sie ihm so viel vertrauter war als Chip, es um so schwerer machte, sie zu sehen.
«Wie viele Finger halte ich hoch?», fragte ihn das Mädchen.
Er betrachtete ihre Finger. Wenn er sich nicht irrte, lautete deren Botschaft: Entspannen. Nicht so verkrampft. Lass dir Zeit.
Er lächelte, während sich seine Blase leerte.
«Mr. Lambert? Wie viele Finger halte ich hoch?»
Da, die Finger. Es war wunderschön. Die Erleichterung, für nichts verantwortlich zu sein. Je weniger er wusste, desto glücklicher war er. Überhaupt nichts zu wissen wäre der Himmel.
«Dad?»
«Ich sollte das eigentlich wissen», sagte er. «Ist es nicht unglaublich, dass ich so was vergessen kann?»
Das Mädchen und Chip tauschten Blicke und gingen hinaus auf den Flur. Das Entspannen war angenehm gewesen, doch nach einer Minute oder zweien fühlte sich alles klamm an. Er musste seine Kleider wechseln und konnte es nicht. Saß in seinem abkühlenden Schlamassel. «Chip?», rief er.
Stille hatte sich auf den Gefängnistrakt gelegt. Auf Chip war kein Verlass, immer wieder verschwand er. Auf niemanden war Verlass, außer auf einen selbst. Ohne Plan im Kopf und ohne Kraft in den Händen versuchte er, den Gürtel zu lockern, um sich die Hose auszuziehen und sich abzutrocknen. Doch es war zum Auswachsen mit dem Gürtel. Zwanzigmal fuhr er mit den Händen daran entlang, und zwanzigmal fand er keine Schnalle. Er war wie ein Zwei-Dimensionen-Mensch, der in eine dritte Dimension flüchten wollte. Und wenn er sich bis in alle Ewigkeit bemühte, er würde die verdammte Schnalle doch nicht finden.
«Chip!», rief er, aber nicht laut, weil der schwarze Bastard da draußen lauerte und ihn hart bestrafen würde. «Chip, komm her und hilf mir.»
Am liebsten wäre er seine Beine gleich ganz losgeworden. Sie waren schwach und ruhelos und nass und gefangen. Er strampelte ein bisschen und schaukelte in seinem nicht schaukelnden Stuhl. Seine Hände waren in Aufruhr. Je weniger Gewalt er über seine Beine hatte, umso heftiger schwang er die Arme. Jetzt kriegten sie ihn, die Bastarde, er war verraten worden, und er begann zu weinen. Hätte er es bloß gewusst! Hätte er es bloß gewusst, dann hätte er etwas unternehmen können, er hatte doch das Gewehr gehabt, er hatte den tiefen kalten Ozean gehabt, hätte er es bloß gewusst.