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«Sie ist doch ein schreckliches Vorbild für junge Leute», sagte Bea. «Wenn man in seinem Leben schon eine gottlose Entscheidung trifft, dann sollte man sich, finde ich, wenigstens nicht auch noch damit brüsten. Vor allem, wo es heutzutage alle möglichen Kurse gibt, in denen solche Leute Hilfe bekommen.»

Enid, die in diesem Rubber Beas Partnerin war und sich sowieso schon ärgerte, weil Bea auf ihre Zweier-Eröffnung nicht reagiert hatte, merkte milde an, sie glaube nicht, dass «Lesbierinnen» etwas dafür könnten, «lesbisch» zu sein.

«O doch, es ist eindeutig Willenssache», sagte Bea. «Es ist eine Schwäche, und die zeigt sich schon in der Pubertät. Gar kein Zweifel. Da sind sich alle Experten einig.»

«Dieser Krimi, in dem die Freundin von ihr und Harrison Ford die Hauptrollen spielen, war phantastisch», sagte Mary Beth Schumpert. «Wie hieß der noch gleich?»

«Ich glaube nicht, dass es Willenssache ist», sagte Enid ruhig.

«Chip hat mal etwas sehr Interessantes zu mir gesagt. Er sagte, wenn so viele Leute Homosexuelle hassen und auf dem Kieker haben, warum sollte sich da irgendjemand ohne Not dafür entscheiden, homosexuell zu sein? Ich fand, das war wirklich ein interessanter Gesichtspunkt.»

«Ach was, nein, die wollen doch bloß besondere Rechte haben», sagte Bea. «Die wollen ihren. Das ist der Grund, warum sie von so vielen abgelehnt werden, auch unabhängig davon, wie unsittlich ihr Verhalten ist. Es genügt ihnen nicht, eine gottlose Entscheidung zu fällen. Sie müssen sich auch noch damit brüsten.»

«Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zum letzten Mal einen richtig guten Film gesehen habe», sagte Mary Beth.

Enid war keine Verfechterin «alternativer» Lebensformen, und was ihr an Bea Meisner missfiel, missfiel ihr schon seit vierzig Jahren. Sie hätte nicht sagen können, warum gerade dieses Bridgetisch-Gespräch sie zu dem Entschluss führte, nicht länger mit Bea Meisner befreundet sein zu müssen. Genauso wenig hätte sie sagen können, warum Garys Materialismus, Chips Versagen und Denise' Kinderlosigkeit, die sie über die Jahre ungezählte nächtliche Stunden des Grübelns und Richtens gekostet hatten, ihr so viel weniger zu schaffen machten, seit Alfred aus dem Haus war.

Was sicher dazu beitrug, war, dass ihr alle drei Kinder unter die Arme griffen. Insbesondere Chip wirkte auf geradezu wundersame Weise verwandelt. Nach Weihnachten blieb er ganze sechs Wochen bei Enid und besuchte Alfred jeden Tag, bevor er nach New York zurückkehrte. Einen Monat später war er, ohne seine grässlichen Ohrringe, schon wieder in St. Jude. Er schlug ihr vor, seinen Aufenthalt auf eine Länge auszudehnen, die Enid ebenso erfreute wie verblüffte, bis sich herausstellte, dass er sich mit der Chefärztin der neurologischen Station an der St.-Luke's-Klinik angefreundet hatte.

Die Neurologin, Alison Schulman, war eine kraushaarige und ziemlich unscheinbare junge Jüdin aus Chicago. Enid fand sie sogar recht nett, aber es war ihr ein Rätsel, was eine erfolgreiche junge Ärztin an ihrem Sohn, der keiner geregelten Tätigkeit nachging, finden mochte. Noch rätselhafter wurde das Ganze, als Chip ihr im Juni verkündete, er werde nach Chicago umziehen, wo er mit Alison, die sich in eine Gemeinschaftspraxis in Skokie eingekauft hatte, in einem unmoralischen eheähnlichen Verhältnis zusammenleben wollte. Weder bestätigte noch leugnete Chip, dass er keine feste Anstellung und auch nicht die Absicht hatte, einen Teil der Haushaltskosten mitzutragen. Er behauptete, er arbeite an einem Drehbuch. Er sagte, «seine» Produzentin in New York habe seine «neue» Fassung «großartig» gefunden und ihn gebeten, sie noch einmal umzuschreiben. Die einzige Tätigkeit, bei der er etwas verdiente, war, soweit Enid wusste, ein Teilzeitjob als Aushilfslehrer. Enid war ihm wirklich dankbar, dass er einmal im Monat von Chicago nach St. Jude gefahren kam und lange Tage bei Alfred verbrachte; sie war glücklich, eines ihrer Kinder wieder bei sich im Mittelwesten zu wissen. Doch als Chip ihr mitteilte, dass er und Alison, eine Frau, mit der er nicht einmal verheiratet war, Zwillinge erwarteten, und Enid dann zu einer Hochzeit einlud, bei der die Braut im siebten Monat schwanger war und die gegenwärtige «Arbeit» des Bräutigams darin bestand, dass er zum vierten oder fünften Mal sein Drehbuch umschrieb, und die Mehrzahl der Gäste nicht nur ausgesprochen jüdisch waren, sondern das glückliche Paar geradezu hinreißend fanden, da herrschte für Enid ganz gewiss kein Mangel an Dingen, über die sie die Nase hätte rümpfen und den Stab hätte brechen können! Und es machte sie wirklich nicht stolz, nein, sie fand, es sprach wirklich nicht für ihre fast fünfzigjährige Ehe, dass sie, wäre Alfred mit ihr zusammen auf der Hochzeit gewesen, in der Tat die Nase gerümpft und in der Tat den Stab gebrochen hätte. Wenn sie neben Alfred gesessen hätte, wäre die Menge die auf sie zugesteuert kam, beim Anblick ihres säuerlichen Gesichtsausdrucks bestimmt gleich wieder abgedreht, und dann wäre sie bestimmt nicht mitsamt ihrem Stuhl hochgehoben und zu den Klängen der Klezmer-Musik durch den ganzen Raum getragen worden und hätte das alles bestimmt nicht so genossen.

Die traurige Tatsache schien die zu sein, dass das Leben ohne Alfred im Haus für alle besser war außer für Alfred. Hedgpeth und die anderen Ärzte einschließlich Alison Schulman, hatten, indem sie Orfic Midlands bald-schon-ehemalige Krankenversicherung nach Herzenslust zur Kasse baten, den alten Mann den ganzen Januar über und bis in den Februar hinein im Krankenhaus behalten und gründlich geprüft, welche Behandlungsmethode, von der Elektroschocktherapie bis zu Haldol, für ihn geeignet sei. Schließlich wurde Alfred mit der Diagnose Parkinson, Demenz, Depression sowie Nervenleiden der Beine und des Harnsystems entlassen. Enid fühlte sich moralisch verpflichtet anzubieten, dass sie ihn zu Hause pflegen würde, doch Gott sei Dank wollten ihre Kinder nichts davon wissen. Alfred wurde im Deepmire Home untergebracht, einem Langzeit-Pflegeheim gleich neben dem Country Club, und Enid machte es sich zur Aufgabe, ihn jeden Tag zu besuchen, sich um seine Kleidung zu kümmern und ihn mit hausgemachten Leckerbissen zu versorgen.

Sie war froh, wenigstens seinen Körper wiederzuhaben. Seine Größe, seine Gestalt, seinen Geruch hatte sie immer geliebt, und jetzt, da er im Rollstuhl saß, war er bedeutend nahbarer und außerdem unfähig, Einwände gegen ihre Zärtlichkeiten klar verständlich zu formulieren. Er ließ sich küssen und schreckte nicht zurück, wenn ihre Lippen ein wenig bei ihm verweilten; er zuckte nicht zusammen, wenn sie ihm übers Haar strich.

Sein Körper war es, wonach sie sich immer gesehnt hatte. Das Problem war der Rest von ihm — Sie fühlte sich unwohl, bevor sie aufbrach, um ihn zu besuchen, unwohl, während sie bei ihm saß, und unwohl für Stunden danach. Inzwischen war er vollends unberechenbar geworden. Manchmal, wenn Enid ins Zimmer kam, traf sie ihn in einem Zustand tiefster Niedergeschlagenheit an, das Kinn auf der Brust und einen keksgroßen Sabberfleck auf einem Hosenbein. Oder er plauderte gerade freundlich mit einem Schlaganfallpatienten oder einer Zimmerpflanze. Oder er schälte ein unsichtbares Stück Obst, das seine Aufmerksamkeit Stunde um Stunde in Anspruch nahm. Oder er schlief. Aber was auch immer er tat: Es ergab keinen Sinn.

Chip und Denise brachten die Geduld auf, bei ihm zu sitzen und sich mit ihm über jedes noch so irrsinnige Szenario zu unterhalten, in dem er gerade lebte, sei es ein Zugunglück oder eine Einkerkerung oder eine Luxuskreuzfahrt, doch Enid konnte ihm nicht den kleinsten Fehler nachsehen. Wenn er sie für ihre Mutter hielt, verbesserte sie ihn ärgerlich: «Ich bin es, Al, Enid, deine Frau seit achtundvierzig Jahren.» Wenn er sie für Denise hielt, waren ihre Worte dieselben. Sie hatte sich ihr Leben lang IM UNRECHT gefühlt, und jetzt hatte sie endlich die Chance, ihm zu sagen, wie sehr er IM UNRECHT war obwohl sie in anderen Lebensbereichen zusehends gelassener und duldsamer wurde, blieb sie im Deepmire Home ständig auf der Hut. Sie musste Alfred sagen, dass es unrecht von ihm war, Eiscreme auf seine saubere, frisch geplättete Hose zu kleckern. Es war unrecht von ihm, Joe Person nicht zu erkennen, wo Joe doch die Liebenswürdigkeit hatte, ihn besuchen zu kommen. Es war unrecht, sich die Schnappschüsse von Aaron und Caleb und Jonah nicht anzusehen. Es war unrecht, sich nicht zu freuen, dass Alison zwei untergewichtige, aber gesunde kleine Mädchen zur Welt gebracht hatte. Es war unrecht, weder glücklich noch dankbar, noch auch nur annähernd klar im Kopf zu sein, als seine Frau und seine Tochter die enorme Mühe auf sich nahmen, ihn zum Thanksgiving-Abendessen nach Hause zu holen. Es war unrecht, nach diesem Essen, als sie ihn ins Deepmire Home zurückgefahren hatten, zu sagen: «Besser, man geht hier gar nicht erst weg, als wieder herkommen zu müssen.» Wenn er im Kopf klar genug sein konnte, um immerhin einen solchen Satz zustande zu bringen, war es unrecht von ihm, sonst niemals klar im Kopf zu sein. Es war unrecht, in der Nacht zu versuchen, sich mit seinem Bettlaken aufzuhängen. Es war unrecht, sich gegen das Fenster zu werfen. Es war unrecht, sich mit einer Gabel das Handgelenk aufschlitzen zu wollen. Alles in allem war so vieles, was er tat, unrecht, dass sie es, abgesehen von ihren vier Tagen in New York und den beiden Weihnachtsbesuchen in Philadelphia und den drei Wochen, die sie brauchte, um sich von ihrer Hüftoperation zu erholen, keinen einzigen Tag versäumte, ihn zu besuchen. Solange noch Zeit war, musste sie ihm sagen, wie sehr er im Unrecht und wie sehr sie im Recht gewesen war. Wie unrecht es gewesen war, sie nicht noch mehr geliebt zu haben, wie unrecht, sie nicht auf Händen getragen und bei jeder Gelegenheit mit ihr geschlafen zu haben, wie unrecht, ihren finanziellen Instinkten nicht gefolgt zu sein, wie unrecht, so viel gearbeitet und so wenig Zeit mit den Kindern verbracht zu haben, wie unrecht, so freudlos, so schwarzseherisch gewesen zu sein, wie unrecht, vor dem Leben Reißaus genommen zu haben, wie unrecht, wieder und wieder nein gesagt zu haben anstatt ja: All das musste sie ihm sagen, Tag für Tag. Selbst wenn er nicht zuhörte, musste sie es ihm sagen.