Выбрать главу

Er entriss seine Hand dem verbotenen Ort, lief ins Badezimmer und duschte lange. Als er wieder herauskam, war Melissa schon angezogen und hatte ihre Tasche gepackt. Im Morgenlicht sah sie vollkommen unfleischlich aus. Sie pfiff eine lustige Melodie.

«Liebling, neuer Plan», sagte sie. «Mein Vater, der ja im Grunde ein wunderbarer Mann ist, fährt heute für einen Tag nach Westport raus. Ich möchte bei ihnen sein.»

Chip wünschte, er könnte, wie sie, nicht die geringste Scham empfinden, aber sie um eine weitere Pille zu bitten war ihm hochnotpeinlich. «Was ist mit unserem Essen heute Abend?»

«Tut mir Leid. Es ist wirklich wichtig, dass ich hinfahre.»

«Mehrere Stunden am Tag mit ihnen zu telefonieren reicht also nicht.»

«Chip, es tut mir Leid. Immerhin geht es hier um meine besten Freunde.»

Tom Paquette war Chip nach allem, was er von ihm gehört hatte, unsympathisch: ein dilettantischer Rockmusiker, der als kleiner Pimpf ein Treuhandvermögen geerbt hatte und seine Familie wegen einer Rollerbladerin sitzen ließ. Und in den letzten paar Tagen war ihm auch Clair mit ihrem ewigen eigensüchtigen Geschnatter, das Melissa sich geduldig anhörte, zunehmend auf die Nerven gegangen.

«Na toll», sagte er. «Ich fahre dich nach Westport.»

Melissa warf ihr Haar zurück, sodass es sich wie ein Fächer auf ihrem Rücken ausbreitete. «Liebling? Nicht böse sein.»

«Wenn du nicht zum Cape willst, dann willst du eben nicht. Ich fahre dich nach Westport.»

«Gut. Ziehst du dich an?»

«Aber weißt du, Melissa, ein bisschen krankhaft ist das schon, wie du an deinen Eltern hängst.»

Sie schien ihn nicht gehört zu haben, ging zum Spiegel, tuschte sich die Wimpern, malte sich die Lippen. Chip stand, mit einem Handtuch um die Hüften, mitten im Zimmer. Er fühlte sich monströs, als hätte er Warzen am ganzen Körper. Melissa hatte allen Grund, von ihm angewidert zu sein. Trotzdem wollte er sich ihr verständlich machen.

«Ist dir klar, was ich meine?»

«Liebling. Chip.» Sie presste ihre geschminkten Lippen aufeinander. «Zieh dich an.»

«Kinder sollten nicht gut mit ihren Eltern auskommen, Melissa. Eltern sollten nicht die besten Freunde ihrer Kinder sein. Es muss da ein Moment der Rebellion geben. Erst so definiert man sich als Persönlichkeit.»

«Vielleicht definierst du dich so», sagte sie. «Aber du bist ja auch nicht gerade das Musterbeispiel eines glücklichen Erwachsenen.»

Er grinste. Eins zu null für sie.

«Ich mag mich immerhin», sagte sie. «Während du dich offenbar nicht besonders magst.»

«Auch deine Eltern scheinen große Stücke auf sich zu halten», sagte er. «Deine ganze Familie scheint das zu tun.»

Noch nie hatte er Melissa richtig wütend erlebt. «Ich liebe mich selbst», sagte sie. «Was ist daran auszusetzen?»

Er wusste nicht, was daran auszusetzen war. Er wusste überhaupt nicht, was an Melissa auszusetzen war — die Selbstverliebtheit ihrer Eltern? Ihre Theatralik und ihr Selbstvertrauen? Ihre schwärmerische Begeisterung für den Kapitalismus? Dass sie keine gleichaltrigen Freunde besaß? Jenes Gefühl, das ihn am letzten Tag von «Konsum und Kritik» beschlichen hatte, die Ahnung, dass er in allem falsch lag, dass an der Welt nicht das Geringste auszusetzen war, auch daran nicht, sich in ihr wohl zu fühlen, ja dass das Ganze allein sein Problem war, kehrte jetzt mit solcher Macht zurück, dass er sich aufs Bett setzen musste.

«Wie steht's mit unseren Drogen?»

«Alle», sagte Melissa.

«Okay.»

«Ich hatte sechs, und davon hast du fünf geschluckt.»

«Was?»

«Und wie man sieht, war es ein großer Fehler, dir nicht alle sechs gegeben zu haben.»

«Und was hast du genommen?»

«Advil, Liebling.» Der Tonfall des Koseworts war inzwischen am anderen Ende des Spannungsbogens angekommen und klang durch und durch ironisch. «Gegen wund geriebene Stellen?»

«Ich habe dich nicht gebeten, diese Droge zu besorgen», sagte er.

«Nicht wortwörtlich, stimmt.»

«Wie meinst du das?»

«Na, ohne das Zeug hätten wir bestimmt einen Mordsspaß gehabt.»

Chip fragte nicht nach. Vermutlich meinte sie, er sei ein miserabler, ängstlicher Liebhaber gewesen, bevor er Mexican A genommen hatte. Natürlich war er ein miserabler, ängstlicher Liebhaber gewesen, aber er hatte sich der Hoffnung hingegeben, es möge ihr nicht aufgefallen sein. Von neuer Scham gepeinigt und das ganze Zimmer bar jeder Droge, die ihr den Stachel hätte nehmen können, senkte er den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Die Scham lastete auf ihm, darunter kochte die Wut.

«Fährst du mich nun nach Westport?», fragte Melissa.

Er nickte, aber sie hatte ihn wohl gar nicht angesehen, denn er hörte sie in einem Telefonbuch blättern. Er hörte sie sagen, dass sie ein Taxi nach New London brauche. Und er hörte sie sagen: «Comfort Valley Lodge. Zimmer 23.»

«Ich fahr dich nach Westport», sagte er.

Sie legte auf. «Nein, ist gut.»

«Melissa. Bestell das Taxi ab. Ich fahr dich.»

Sie teilte den Vorhang des hinteren Fensters; es gab den Blick auf ein Stück Maschendrahtzaun, kerzengerade Ahornbäume und die Rückseite einer Wiederverwertungsanlage frei. Acht oder zehn Schneeflocken trieben trostlos umher. Am östlichen Himmel, dort, wo die weiße, wetzende Sonne die Wolkendecke durchgescheuert hatte, war eine wunde Stelle. Während Melissa ihm den Rücken zukehrte, hatte Chip sich rasch angezogen. Wenn er sich nicht so enorm geschämt hätte, wäre er vielleicht zum Fenster gegangen und hätte sie berührt, und vielleicht hätte sie sich umgedreht und ihm verziehen. Doch seine Hände fühlten sich räuberisch an. Er stellte sich vor, wie sie zurückweichen würde, und war ein bisschen unsicher, ob nicht irgendein dunkler Teil von ihm Lust hatte, sie zu vergewaltigen, zur Strafe dafür, dass sie sich auf eine Weise mochte, die ihm verwehrt war. Das Schwingen in ihrer Stimme, ihr federnder Gang, ihre gelassene Eigenliebe: wie verführerisch und abstoßend zugleich! Sie durfte sie selbst sein, er durfte es nicht. Und er wusste bereits, dass er erledigt war — dass er sie gar nicht mochte und doch entsetzlich vermissen würde.

Sie wählte noch eine Nummer. «Hey, Liebes», sagte sie in ihr Handy. «Ich mache mich jetzt auf den Weg nach New London. Ich nehme den ersten Zug, der kommt… Nein, ich will bloß mit euch beiden zusammen sein… Absolut, absolut… Ja, absolut… Okay, Küsschen, Küsschen, bis nachher… Ja-ha.»

Vor der Tür hupte ein Wagen.

«Mein Taxi ist da», sagte sie zu ihrer Mutter. «Klar, okay. Küsschen, Küsschen. Bis nachher.»

Sie warf sich ihre Jacke über die Schulter, nahm die Tasche und tänzelte im Walzerschritt durch den Raum. An der Tür verkündete sie niemand Bestimmtem, dass sie jetzt gehen werde. «Bis dann!», sagte sie und schaute Chip beinahe an.

Er wurde nicht schlau aus ihr: Entweder war sie ungeheuer gut angepasst, oder sie hatte einen ernsten Schaden. Er hörte eine Wagentür zuschlagen, einen Motor brummen. Dann trat er ans vordere Fenster und sah im Heck eines rotweißen Taxis gerade noch ihr kirschholzfarbenes Haar aufblitzen. Nach fünf Jahren Abstinenz, fand er, war jetzt die Zeit reif, Zigaretten zu kaufen.