Er zog sich eine Jacke an und lief über kalten, gleichgültigen Asphalt. Er steckte Geld durch einen Schlitz im kugelsicheren Glas eines Automaten.
Es war der Thanksgiving-Morgen. Die Schauer hatten aufgehört, und die Sonne war halb zum Vorschein gekommen. Die Flügel einer Möwe klapperten und knatterten. Der Wind wirkte aufgestört, schien immer knapp über dem Boden zu bleiben. Chip setzte sich auf eine eiskalte Leitplanke, rauchte und fand Trost in der unerschütterlichen Mittelmäßigkeit amerikanischer Erzeugnisse, den schlichten Metall- und Plastikversatzstücken zu beiden Seiten der Straße. Im Rattern einer Zapfsäulendüse, das zu ihm herüberdrang, wenn ein Tank gefüllt wurde, in ihrer demutsvollen, prompten Dienstfertigkeit. Und in einer 99 ct Riesenschluck-Fahne, die sich in der Brise blähte und nirgendwohin segelte, im Peitschen und Klimpern ihrer Nylonseile, die gegen einen verzinkten Pfosten schlugen. Und in den schwarzen Groteskziffern der Benzinpreise, dem Regiment soundso vieler 9en. Und in den amerikanischen Limousinen, die im Bummeltempo von Fünfzig oder weniger die Zufahrtsstraße entlang zuckelten. Und in den orangefarbenen und gelben Plastikwimpeln, die über seinem Kopf an Spannschnüren zitterten.
«Dad ist schon wieder die Kellertreppe runtergefallen», sagte Enid, während in New York City der Regen fiel. «Er wollte eine große Kiste Pekannüsse in den Keller bringen, hat sich nicht am Geländer festgehalten und ist gefallen. Na ja, du kannst dir vorstellen, wie viele Pekannüsse in so einer Zwölf-Pfund-Kiste sind. Überall sind sie hingekullert. Denise, ich habe den halben Tag auf Händen und Knien zugebracht, und ich finde immer noch welche. Sie haben die gleiche Farbe wie diese Grillen, die wir nicht loswerden. Ich strecke die Hand aus, um eine Nuss aufzuheben, und schon springt sie mir ins Gesicht!»
Denise war dabei, die Stiele der mitgebrachten Sonnenblumen zu schneiden. «Warum musste Dad überhaupt zwölf Pfund Pekannüsse die Kellertreppe runtertragen?»
«Er wollte eine Aufgabe haben, die er in seinem Sessel erledigen konnte. Er hatte vor, die Nüsse zu knacken.» Enid lugte Denise über die Schulter. «Kann ich nicht irgendwas tun?»
«Du kannst eine Vase suchen.»
Der erste Schrank, den Enid öffnete, enthielt einen Karton voller Weinflaschenkorken, sonst nichts. «Ich frage mich, warum Chip uns zu sich eingeladen hat, wenn er nicht mal mit uns zu Mittag isst.»
«Wahrscheinlich hatte er nicht eingeplant, heute Morgen von seiner Freundin verlassen zu werden.»
Denise' Tonfall ließ Enid immer wieder spüren, dass sie dumm war. Denise, fand Enid, war kein sehr freundlicher oder großherziger Mensch. Aber sie war immerhin eine Tochter, und da Enid ein paar Wochen zuvor etwas Beschämendes getan hatte, das sie jetzt dringend jemandem beichten musste, hoffte sie, Denise würde dieser Jemand sein.
«Gary möchte, dass wir das Haus verkaufen und nach Philadelphia ziehen», sagte sie. «Gary findet, Philadelphia wäre gut, weil ihr beide da wohnt, und Chip in New York wäre ja auch nicht weit. Ich habe zu Gary gesagt, ich liebe meine Kinder, aber in St. Jude fühle ich mich nun mal am wohlsten. Ich gehöre in den Mittelwesten, Denise. In Philadelphia wäre ich verloren. Gary möchte, dass wir uns für betreutes Wohnen anmelden. Er begreift nicht, dass es dafür schon zu spät ist.
Solche Heime nehmen Leute, die in einem Zustand sind wie Dad, gar nicht mehr auf.»
«Aber wenn Dad nun dauernd die Treppe runterfällt.»
«Denise, er benutzt das Geländer nicht! Er hört einfach nicht, wenn ich ihm sage, dass er beim Treppensteigen nichts tragen darf.»
Unter dem Spülbecken fand Enid eine Vase, versteckt hinter einem Stapel gerahmter Fotografien, vier Bildern von irgendwelchen rosafarbenen, pelzigen Dingen, spinnerte Kunst, vielleicht auch medizinische Aufnahmen oder so etwas. Sie versuchte, still und leise an ihnen vorbeizugreifen, warf dabei aber einen Spargeltopf um, den sie Chip einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. Sofort schaute Denise zu ihr nach unten, und sie konnte nicht länger so tun, als hätte sie die Bilder nicht gesehen. «Du liebe Zeit», sagte sie finster. «Denise, was ist denn das?»
«Was soll das heißen — ‹was ist denn das›?»
«Irgendwas Spinnertes von Chip, nehme ich an.»
Denise gab sich auf eine Weise «amüsiert», die Enid schon immer wahnsinnig gemacht hatte. «Natürlich weißt du, was das ist.»
«Nein, weiß ich nicht.»
«Du weißt nicht, was das ist?»
Enid holte die Vase heraus und machte das Schränkchen zu. «Ich will es nicht wissen.»
«Na, das ist aber etwas ganz anderes.»
Derweil nahm Alfred im Wohnzimmer all seinen Mut zusammen, um sich auf Chips Chaiselongue zu setzen. Vor weniger als zehn Minuten hatte er sich darauf niedergelassen, ohne dass etwas passiert war. Doch nun, anstatt es einfach wieder zu tun, hatte er zu denken angefangen. Erst kürzlich hatte er festgestellt, dass der Akt des Sichhinsetzens im Kern ein Kontrollverlust war, ein blinder freier Fall nach hinten. Sein fabelhafter blauer Sessel in St. Jude war wie ein Baseballhandschuh, der jeden auf ihn zufliegenden Körper, gleich, aus welchem Winkel und mit welcher Wucht er kam, sanft aufzufangen wusste; der Sessel hatte starke, hilfsbereite Bärenarme, auf die Alfred zählen konnte, wenn er sich, völlig blind, rückwärts fallen ließ. Chips Chaiselongue hingegen war eine tief liegende, unpraktische Antiquität. Alfred stand mit dem Rücken zu ihr und zögerte, die Knie ziemlich geringfügig angewinkelt, gerade mal so weit, wie seine nervenkranken Waden es eben zuließen, und tastete mit schaufelnden Bewegungen hinter sich in der Luft herum. Er hatte Angst zu fallen. So halb hockend und bebend dazustehen hatte jedoch auch etwas Obszönes, etwas, das an Männerklos erinnerte, eine Verletzlichkeit im Grunde, die ihm so ergreifend und zugleich würdelos vorkam, dass er, bloß um ihr ein Ende zu bereiten, die Augen schloss und losließ. Er landete schwer auf dem Hintern und fiel noch weiter rückwärts, bis er mit den Knien in der Luft auf dem Rücken liegen blieb.
«Alles in Ordnung, Al?», rief Enid.
«Ich werde aus diesem Möbel nicht schlau», sagte er, während er mühsam versuchte, sich aufzusetzen und energisch zu klingen. «Soll das ein Sofa sein?»
Denise kam aus der Küche und stellte eine Vase mit drei Sonnenblumen auf das kleine Tischchen neben der Chaiselongue. «Es ist so was Ähnliches wie ein Sofa», sagte sie. «Man kann die Füße hochlegen und ein französischer Philosoph sein. Oder über Schopenhauer reden.»
Alfred schüttelte den Kopf.
Von der Küchentür aus meldete sich Enid zu Wort: «Dr. Hedgpeth hat gesagt, du sollst auf hohen Stühlen mit gerader Lehne sitzen.»
Da Alfred an diesen Instruktionen kein Interesse zu haben schien, wiederholte Enid sie, als Denise zurück in die Küche kam. «Ausschließlich hohe Stühle mit gerader Lehne», sagte sie. «Aber Dad hört nicht auf ihn. Er lässt sich nicht davon abbringen, in seinem Ledersessel zu sitzen. Und dann ruft er nach mir, damit ich komme und ihm aufhelfe. Aber wenn ich mir den Rücken kaputtmache, was ist dann? Ich habe extra für ihn einen der schönen alten Pfostenstühle unten vor den Fernseher gestellt. Aber er zieht es vor, in seinem Ledersessel zu sitzen und, um da wieder rauszukommen, mit dem Polster nach vorn zu rutschen, bis er auf dem Fußboden hockt. Dann kriecht er zur Tischtennisplatte und zieht sich daran hoch.»
«Ist doch eigentlich ganz pfiffig», sagte Denise, während sie einen Arm voll Lebensmittel aus dem Kühlschrank holte.
«Er kriecht über den Fußboden, Denise. Anstatt auf einem schönen, bequemen Stuhl mit gerader Rückenlehne zu sitzen, was in seinem Fall sehr wichtig ist, wie der Doktor gesagt hat, kriecht er über den Fußboden. Er sollte im Grunde überhaupt nicht so viel sitzen. Dr. Hedgpeth meint, sein Zustand wäre gar nicht so ernst, wenn er einfach mal rausgehen und irgendwas tun würde. Sich kümmern oder verkümmern: Das sagt einem doch jeder Arzt. Dave Schumpert hat zehnmal mehr Gesundheitsprobleme gehabt als Dad, er lebt seit fünfzehn Jahren mit einer Kolostomie, er hat nur noch einen Lungenflügel, er hat einen Herzschrittmacher, und guck dir an, was er und Mary Beth alles auf die Beine stellen. Gerade erst sind sie vom Schnorcheln auf den Fidschi-Inseln wiedergekommen! Und Dave beklagt sich nie. Nie. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an Gene Grillo, Dads alten Freund aus Hephaestus, er hat ganz schlimm Parkinson — viel, viel schlimmer als Dad. Er lebt noch zu Hause in Fort Wayne, sitzt allerdings im Rollstuhl. Sein Zustand ist wirklich schrecklich, aber er interessiert sich für Dinge, Denise. Er kann nicht mehr schreiben, also hat er uns einen ‹Hörbrief› geschickt, wirklich reizend, eine Kassette, auf der er ausführlich von jedem seiner Enkelkinder erzählt, er kennt seine Enkelkinder nämlich und interessiert sich für sie, und er spricht auch davon, dass er jetzt angefangen hat, sich selbst Kambodschanisch beizubringen, er nennt es Khmer, indem er eine Kassette anhört und das kambodschanische (nein: das Khmer-) Fernsehprogramm in Fort Wayne anschaut, und all das nur, weil sein jüngster Sohn mit einer Kambodschanerin, nein: einer Khmer, verheiratet ist, deren Eltern kein Englisch sprechen, und Gene möchte sich unbedingt ein bisschen mit ihnen unterhalten können. Kannst du dir das vorstellen? Da sitzt Gene im Rollstuhl, ist ein Krüppel und überlegt sich immer noch, was er für andere tun kann! Während Dad, der laufen und schreiben und sich selbst anziehen kann, den ganzen Tag nichts anderes macht, als in seinem Sessel zu sitzen.»