«Mutter, er ist depressiv», sagte Denise leise, während sie Brot schnitt.
«Das sagen Gary und Caroline auch. Sie sagen, er ist depressiv und sollte ein Medikament nehmen. Sie sagen, er war ein Workaholic, sein Beruf war eine Droge, und seit er ihn nicht mehr ausübt, ist er depressiv.»
«Also geben wir ihm irgendein Mittel und vergessen ihn. Schön bequem.»
«Also, da tust du Gary aber unrecht.»
«Bring mich bloß nicht dazu, über Gary und Caroline zu reden.»
«Gütiger Himmel, Denise, mir ist völlig schleierhaft, dass du dir noch keinen Finger abgeschnitten hast, so, wie du mit dem Messer herumfuchtelst.»
Aus dem Ende eines französischen Brotlaibs hatte Denise drei kleine Fahrzeuge mit Krustenboden fabriziert. Auf das eine setzte sie wie vom Wind geblähte Buttersegel, in ein anderes lud sie Parmesanscherben in einem Holzwollnest aus klein geschnittener Rucola, und das dritte belegte sie mit gehäckselten Oliven in Olivenöl und deckte eine dicke rote Paprikapersenning darüber.
Enid sagte: «Mmh, sehen die gut aus», und griff, katzenflink, nach dem Teller, auf dem Denise die Snacks angerichtet hatte. Doch der Teller entwischte ihr.
«Die sind für Dad.»
«Bloß eine kleine Ecke von einem.»
«Ich mache dir auch noch welche.»
«Nein, ich möchte bloß eine kleine Ecke von Dads.»
Aber Denise ging schon aus der Küche und brachte den Teller Alfred, für den das Problem des Daseins dieses war: dass die Welt, wie ein aus dem Boden emportreibender Weizensämling, sich auf der zeitlichen Achse vorwärts bewegte, indem sie ihrem äußeren Rand Zelle für Zelle hinzufügte, also einen Moment auf den anderen schichtete, und dass es, selbst wenn man die Welt in ihrem frischesten, jüngsten Moment begriff, keinerlei Garantie dafür gab, dass man sie auch einen Moment später noch begreifen konnte. Als er gerade verstanden hatte, dass seine Tochter Denise ihm im Wohnzimmer seines Sohnes Chip einen Teller Snacks reichte, reifte bereits der nächste Augenblick im Ablauf der Zeit zu einer urtümlichen, noch unbegriffenen Existenz heran, in der Alfred zum Beispiel die Möglichkeit, dass seine Frau Enid ihm im Salon eines Bordells einen Teller Fäkalien reichte, nicht vollkommen ausschließen konnte, und kaum hatte er sich der Gegenwart von Denise, den Snacks und Chips Wohnzimmer vergewissert, da hatte der äußere Rand der Zeit bereits eine weitere Schicht Zellen hinzugewonnen, sodass er abermals mit einer andersartigen, noch unbegriffenen Welt konfrontiert war, weshalb er es, anstatt seine Kräfte bei diesem Wettlauf zu verausgaben, zusehends vorzog, seine Zeit unter Tage zuzubringen, zwischen den unveränderlichen historischen Wurzeln der Dinge.
«Etwas zur Stärkung, solange ich das Mittagessen vorbereite», sagte Denise.
Dankbar blickte Alfred auf die Snacks, die sich ihm zu ungefähr neunzig Prozent stabil als etwas Essbares präsentierten und nur sporadisch in Gegenstände von ähnlicher Größe und Form hinüberflimmerten.
«Möchtest du vielleicht ein Glas Wein?»
«Nicht nötig», sagte er. Je mehr Dankbarkeit aus seinem Herzen nach außen drang — je gerührter er also war — , umso ungezügelter begannen seine ineinander gelegten Hände mitsamt den Unterarmen auf seinem Schoß umherzuhüpfen. Er versuchte, irgendetwas im Raum zu finden, das ihn nicht rührte, etwas, worauf seine Augen getrost ausruhen könnten, doch da es Chips Zimmer war und Denise darin stand, erinnerten ihn jeder Gegenstand und jede Oberfläche — selbst ein Heizkörperventil oder ein etwas abgeschabtes Stück Wand auf Oberschenkelhöhe — an die ganz eigenen Ostküsten-Welten, in denen seine Kinder lebten, und damit an die beträchtlichen Entfernungen, die ihn von allen dreien trennten, und seine Hände zitterten nur noch mehr.
Dass seine Tochter, deren Aufmerksamkeiten seinen Zustand am allermeisten verschlimmerten, ausgerechnet der Mensch war, von dem so gesehen zu werden er am allerwenigsten ertragen konnte, war die Art von teuflischer Logik, die einen Mann in seinem Pessimismus nur bestärken konnte.
«Ich lass dich einen Augenblick allein», sagte Denise, «und kümmere mich ums Essen.»
Er schloss die Augen und dankte ihr. Wie jemand, der eine Regenpause abpasst, um vom Auto in ein Geschäft zu rennen, wartete er darauf, dass sein Zittern vorübergehend abebbte, damit er die Hand ausstrecken und gefahrlos essen konnte, was Denise ihm gebracht hatte.
Dieser Zustand beleidigte sein Verständnis von Eigentum. Die zitternden Hände gehörten niemand anderem als ihm, und doch verweigerten sie ihm den Gehorsam wie ungezogene Kinder. Wie vernunftlose Zweijährige, die aus lauter Egoismus einen Wutanfall bekamen. Je strenger er durchgriff, umso weniger hörten sie auf ihn, umso quengeliger wurden sie und umso weniger vermochte er sie zu bändigen. Die Widerspenstigkeit eines Kindes, das sich einfach nicht wie ein Erwachsener benehmen wollte, war ihm immer ein Dorn im Auge gewesen. Verantwortungslosigkeit und Mangel an Disziplin waren der Fluch seines Lebens, und es war ein weiteres Beispiel der besagten teuflischen Logik, dass sein eigener verfrühter Leidenszustand ausgerechnet darin bestand, einen Körper zu haben, der ihm den Gehorsam verweigerte.
Wenn aber deine rechte Hand dir Ärgernis schafft, sagte Jesus, so schlage sie ab.
Während er darauf wartete, dass das Zittern nachließ — während er hilflos die zuckenden, rudernden Bewegungen seiner Hand beobachtete, als befände er sich in einem Raum mit schreienden, ungezogenen Kleinkindern und hätte seine Stimme verloren, sodass er sie nicht zur Ruhe bringen konnte — , fand Alfred Gefallen an der Vorstellung, sich mit der Axt die eigene Hand abzuhacken: das aufmüpfige Glied wissen zu lassen, wie bitterböse er ihm war, wie wenig er es liebte, wo es ihm doch immer wieder nicht gehorchen wollte. Ja, er empfand beinahe so etwas wie Ekstase, als er sich den ersten tiefen Schnitt der Klinge in Knochen und Muskel seines störrischen Handgelenks vorstellte, doch zugleich verspürte er, fast genauso stark, das Bedürfnis, um diese Hand, die die seine war, die er liebte und für die er nur das Beste wollte, die Hand, die er sein Leben lang gekannt hatte, zu weinen.
Ohne dass er es bemerkt hatte, waren seine Gedanken schon wieder bei Chip.
Er fragte sich, wohin Chip gegangen war. Wie er es auch diesmal geschafft hatte, Chip zu vertreiben.
Die Stimmen von Denise und Enid in der Küche waren wie zwei hinter Fliegendraht gefangene Bienen, eine größere und eine kleinere. Und seine Chance, die Ruhepause, auf die er gewartet hatte, kam. Er lehnte sich vor, griff, indem er die nehmende Hand mit der stützenden Hand stabilisierte, nach dem Buttersegelschiff und holte es vom Teller, hob es, ohne es kentern zu lassen, in die Höhe, machte, während es dort trieb und schaukelte, den Mund auf, schnappte danach und hatte es. Hatte es. Hatte es. Die Kruste schnitt ihm ins Zahnfleisch, aber er behielt die ganze Angelegenheit im Mund und kaute sorgfältig, seine schwerfällige Zunge möglichst weit davon fern haltend. Die süße schmelzende Butter, das weiblich Weiche des gebackenen, gesäuerten Weizens. Es gab Kapitel in Hedgpeths kleinen Büchern, die nicht einmal Alfred, fatalistisch und diszipliniert, wie er war, zu lesen vermochte. Kapitel, die sich mit den Problemen des Schluckens befassten, mit den späten Qualen der Zunge, mit dem endgültigen Zusammenbruch des Signalsystems…