Denise zögerte, antwortete dann aber mit einem höflichen, freundlichen: «Ja?» Dieses Zögern bestätigte Enids lang gehegten Verdacht, dass sie und Alfred bei der Erziehung von Denise irgendwann einen falschen Weg eingeschlagen hatten. Dass es ihnen nicht gelungen war, ihrem jüngsten Spross den rechten Geist von Großzügigkeit und freudiger Hilfsbereitschaft einzuimpfen.
«Wie du weißt», sagte Enid, «haben wir jetzt achtmal hintereinander Weihnachten in Philadelphia gefeiert, und Garys Jungs sind inzwischen alt genug, dass ihnen eine Erinnerung an ein Weihnachten im Haus ihrer Großeltern etwas bedeuten könnte, und deshalb dachte ich — »
«Verdammt!» Der Aufschrei kam aus dem Wohnzimmer.
Enid stellte ihr Glas ab und eilte aus der Küche. Alfred saß in einer sträflingsartigen Haltung auf der Kante der Chaiselongue, die Knie angezogen, den Rücken ein wenig gebeugt, und betrachtete die Absturzstelle seines dritten Horsd'oeuvre. Die Brotgondel war ihm auf dem Weg zum Mund aus den Fingern geglitten und aufs Knie gefallen, von dort, Wrackteile verstreuend, auf den Boden gerutscht und schließlich unter der Chaiselongue gelandet. Ein feuchter Pelz roten Paprikapulvers klebte an der Flanke der Chaiselongue. Schatten aus Öltunke bildeten sich um jedes Klümpchen klein gehackter Oliven auf dem Polster. Die leere Gondel lag auf der Seite, und zu sehen war ihr gelb getränktes, braunfleckig weißes Inneres.
Denise zwängte sich mit einem feuchten Schwamm an Enid vorbei und kniete sich neben Alfred. «O Dad», sagte sie, «die sind schwer zu halten, daran hätte ich denken müssen.»
«Gib mir einfach einen Lappen, ich mach das wieder sauber.»
«Nein, lass nur», sagte Denise. Eine hohle Hand darunter haltend, wischte sie die Olivenbröckchen von Alfreds Knien und Oberschenkeln. Seine Hände zitterten nahe an ihrem Kopf in der Luft, als wolle er sie wegstoßen, doch sie arbeitete schnell, hatte bald alle Olivenbröckchen vom Boden aufgenommen und trug die schmuddeligen Essensreste in die Küche zurück, wo es Enid in der Zwischenzeit nach einem weiteren kleinen Spritzer Wein gelüstet hatte, aus dem, da sie nicht erwischt werden wollte, in der Eile ein ziemlich kräftiger kleiner Spritzer geworden war, den sie nun hastig hinunterstürzte.
«Jedenfalls habe ich mir gedacht», sagte sie, «wenn du und Chip Lust hättet, dann könnten wir alle ein letztes Mal Weihnachten in St. Jude feiern. Wie findest du die Idee?»
«Ich komme dahin, wo ihr sein wollt, du und Dad.»
«Nein, ich frage doch dich. Ich möchte wissen, ob es dir Spaß machen würde, ob dir etwas daran liegt, noch ein letztes Mal in dem Haus, in dem du aufgewachsen bist, Weihnachten zu feiern. Wäre das nicht schön für dich?»
«Ich kann dir jetzt schon sagen», antwortete Denise, «dass Caroline nie und nimmer einen Fuß aus Philly heraussetzen wird. Alles andere ist Wunschdenken. Wenn du deine Enkelkinder sehen willst, musst du schon an die Ostküste fahren.»
«Denise, ich frage doch, was du möchtest. Gary hat gesagt, er und Caroline schließen es nicht aus. Ich muss wissen, ob dir etwas an einem Weihnachtsfest in St. Jude liegt. Denn wenn wir anderen uns alle einig sind, dass es wichtig ist, ein letztes Mal als Familie in St. Jude zusammen — »
«Mutter, wenn du glaubst, dass du das schaffst, habe ich nichts dagegen.»
«Ich werde bloß ein bisschen Hilfe in der Küche brauchen.»
«Ich kann dir in der Küche helfen. Aber ich kann nur ein paar Tage kommen.»
«Kannst du dir keine ganze Woche frei nehmen?»
«Nein.»
«Warum nicht?»
«Mutter.»
«Verdammt!», rief Alfred erneut aus dem Wohnzimmer, als irgendetwas Gläsernes, vielleicht eine Vase voller Sonnenblumen, mit einem berstenden Geräusch, einem Scherbengeglucker, zu Boden fiel. «Verdammt! Verdammt!»
Enid hatte selbst so brüchige Nerven, dass sie beinahe ihr Weinglas hätte fallen lassen, und doch war sie in gewisser Weise dankbar für dieses zweite Missgeschick, was immer es sein mochte, weil es Denise einen kleinen Eindruck davon vermittelte, was sie jeden Tag, rund um die Uhr, daheim in St. Jude auszustehen hatte.
Am Abend von Alfreds fünfundsiebzigstem Geburtstag war Chip allein in der Tilton Ledge und verkehrte geschlechtlich mit seiner roten Chaiselongue.
Es war Anfang Januar, und die Wälder rund um den Carparts Creek waren matschig vom schmelzenden Schnee. Nur der Shopping-Center-Himmel über Mittel-Connecticut und die digitalen Anzeigen der häuslichen Elektrogeräte warfen Licht auf seine fleischlichen Mühen. Er kniete zu Füßen seiner Chaiselongue und beschnupperte akribisch, Zentimeter für Zentimeter, den Plüsch, und zwar in der Hoffnung, dass, acht Wochen nachdem Melissa Paquette hier gelegen hatte, noch eine Spur vaginalen Aromas daran haftete. Für gewöhnlich wurden deutliche, identifizierbare Gerüche — Staub, Schweiß, Urin, der penetrante Gestank von Zigarettenrauch, der flüchtige Duft einer Möse — abstrakt und ununterscheidbar, wenn man sie zu lange in der Nase behielt, und so legte er immer wieder Pausen ein, um seine Nasenlöcher durchzulüften. Mit den Lippen arbeitete er sich bis zu den Knopfnabeln vor und legte sie auf die Fusseln, Sandkörner, Krümel und Haare, die sich darin angesammelt hatten. Keine der drei Stellen, an denen er meinte, Melissa zu riechen, duftete ganz eindeutig nach ihr, doch nach ausgiebigem Vergleich fühlte er sich in der Lage, sich für die am wenigsten zweifelhafte Stelle in der Nähe eines Knopfes knapp unterhalb der Rückenlehne zu entscheiden, und widmete ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Nase. Er befingerte mit beiden Händen andere Knöpfe, während der kühle Plüsch, in einer dürftigen Annäherung an Melissas Haut, seine Genitalien wund rieb, bis er schließlich von der Wirklichkeit des Geruchs — davon, dass er wirklich noch ein Andenken an Melissa barg — hinreichend überzeugt war, um den Akt vollziehen zu können. Anschließend rollte er sich von seinem willfährigen antiken Möbel herunter und plumpste zu Boden, mit offener Hose und dem Kopf auf das Polster gebettet, dem Augenblick, wo er es endgültig nicht geschafft haben würde, seinen Vater an dessen Geburtstag anzurufen, wieder eine Stunde näher.
Er rauchte zwei Zigaretten, zündete die eine gleich an der anderen an. Er schaltete den Fernseher ein, wählte einen Kabelsender, in dem ein Marathon alter Warner-Bros.- Zeichentrickfilme lief. Am Rand der bläulich schimmernden Lichtpfütze sah er die Post liegen, die er seit fast einer Woche ungeöffnet auf den Boden warf. Drei Briefe des amtierenden Rektors vom D — College waren darunter, außerdem irgendein ominöses Schreiben von der Lehrer-Pensionskasse sowie ein Brief von der Wohnungsvermittlung des Colleges mit dem Wort RÄUMUNGSBESCHEID gleich vorn auf dem Kuvert.
Früher am Tag hatte Chip ein paar Stunden damit totgeschlagen, auf den ersten Seiten einer vier Wochen alten New York Times mit blauem Kugelschreiber jedes großgeschriebene M zu umkringeln, und war zu dem Schluss gelangt, dass er sich wie ein Depressiver benahm. Jetzt, als sein Telefon zu klingeln anfing, fiel ihm ein, dass ein Depressiver wohl weiter auf den Fernseher starren und das Klingeln ignorieren würde — ja dass er sich vermutlich noch eine Zigarette anzünden und ohne die Spur einer Gefühlsregung einen weiteren Zeichentrickfilm anschauen würde, während sein Anrufbeantworter die Nachricht von wem auch immer entgegennahm.