Dass er hingegen den Impuls hatte, aufzuspringen und ans Telefon zu gehen — dass er der mühevollen Verschwendung eines ganzen Tages so einfach wieder abschwören konnte — , ließ Zweifel an der Echtheit seines Leidens aufkommen. Er hatte das Gefühl, dass er gar nicht fähig war, jedenfalls nicht so wie die Depressiven in Büchern und Filmen, alle Willenskraft und allen Realitätsbezug zu verlieren. Während er den Fernseher stummschaltete und in die Küche eilte, war ihm, als scheitere er selbst an der erbärmlichen Aufgabe, ordentlich vor die Hunde zu gehen.
Er machte seinen Hosenschlitz zu, schaltete das Licht an und nahm ab. «Hallo?»
«Was ist los, Chip?», fragte Denise ohne Vorgeplänkel. «Ich habe gerade mit Dad gesprochen, und er sagt, er hat noch nichts von dir gehört.»
«Denise. Denise. Was schreist du so?»
«Ich schreie, weil ich mich aufrege, und ich rege mich auf, weil heute Dads fünfundsiebzigster Geburtstag ist und du ihn nicht angerufen und ihm auch keine Karte geschrieben hast. Ich rege mich auf, weil ich zwölf Stunden gearbeitet und gerade eben Dad angerufen habe und er sich deinetwegen Sorgen macht. Was ist los?»
Chip war selbst überrascht, dass er lachen musste. «Ich habe meinen Job verloren, das ist los.»
«Du hast die Professur nicht gekriegt?»
«Nein, ich bin gefeuert worden. Sie haben mich nicht mal mehr die letzten zwei Semesterwochen unterrichten lassen. Jemand anders musste die Prüfungen abnehmen. Und ich kann die Entscheidung nur anfechten, indem ich einen Zeugen aufrufe. Aber wenn ich mit meinem Zeugen zu reden versuche, gilt das bloß als weiterer Beweis für mein Vergehen.»
«Wer ist dieser Zeuge? Zeuge wovon?»
Chip nahm eine Flasche aus dem Altglasbehälter, vergewisserte sich, dass sie leer war, und stellte sie zurück. «Eine ehemalige Studentin von mir behauptet, ich sei besessen von ihr. Sie sagt, ich hätte ein Verhältnis mit ihr gehabt und in einem Motelzimmer eine Seminararbeit für sie geschrieben. Und wenn ich mir keinen Anwalt nehme, was ich mir nicht leisten kann, weil sie mir das Gehalt gesperrt haben, darf ich mit dieser Studentin nicht sprechen. Kontakt mit ihr aufzunehmen gilt schon als Belästigung.»
«Lügt sie?», fragte Denise.
«Mom und Dad brauchen das übrigens nicht unbedingt zu wissen.»
«Lügt sie, Chip?»
Der Teil der Times, in dem er jedes großgeschriebene M eingekringelt hatte, lag aufgeschlagen auf Chips Küchentisch. Dieses Kunstwerk jetzt, Stunden später, wieder zu entdecken glich fast der Erinnerung an einen Traum, nur dass ein Traum nicht die Kraft besaß, einen wachen Menschen in seine Welt hineinzuziehen, wohingegen der Anblick eines stark markierten Berichts über abermalige, und zwar erhebliche Kürzungen der Medicare- und Medicaid-Versicherungsleistungen in Chip erneut jenes Gefühl von Unbehagen und unerfüllter Lust weckte, jene Sehnsucht nach Bewusstlosigkeit, die ihn auch dazu getrieben hatte, an der Chaiselongue herumzuschnuppern und — zufummeln. Jetzt musste er sich mühevoll ins Gedächtnis zurückrufen, dass er auf der Chaiselongue bereits gewesen war, dass er diesen Weg, Trost und Vergessen zu finden, bereits beschritten hatte.
Er faltete die Times zusammen und warf sie auf seinen überbordenden Mülleimer.
«Ich hatte mit dieser Frau nie sexuelle Kontakte», sagte er.
«Du weißt, dass ich oft schnell mit einem Urteil bei der Hand bin», sagte Denise, «aber nicht bei so was.»
«Ich hab gesagt, ich habe nicht mit ihr geschlafen.»
«Ich meine ja nur, dass bei diesem Thema absolut alles, was du mir erzählen willst, ein offenes Ohr findet.» Sie räusperte sich mit Nachdruck.
Wenn Chip jemandem aus seiner Familie reinen Wein hätte einschenken wollen, wäre seine kleine Schwester dafür sicher am ehesten infrage gekommen. Nach einem abgebrochenen Studium und einer gescheiterten Ehe hatte Denise immerhin ein wenig Erfahrung mit Dunkelheit und Desillusion. Doch niemand außer Enid hatte Denise je für einen Versager gehalten. Das College, von dem sie vorzeitig abgegangen war, war besser als das, an dem Chip sein Examen abgelegt hatte, und ihre frühe Heirat und die noch nicht lang zurückliegende Scheidung verliehen ihr eine emotionale Reife, die ihm selbst eindeutig fehlte. Und dass sie, obwohl sie achtzig Stunden die Woche arbeitete, immer noch mehr Bücher las als er, stand zu befürchten. Im vergangenen Monat — seit er sich mit Projekten befasste wie dem, Melissa Paquettes Gesicht aus einer Broschüre mit den Porträts aller Studienanfänger herauszuscannen, ihren Kopf sodann mit obszönen, woanders heruntergeladenen Abbildungen chirurgisch zu vernähen und Pixel für Pixel damit zu spielen (und die Stunden flogen nur so dahin, wenn man mit Pixeln spielte) — , in diesem Monat also hatte er nicht ein einziges Buch gelesen.
«Es gab da ein Missverständnis», erzählte er Denise leidenschaftslos. «Und dann schienen sie es kaum erwarten zu können, mich zu feuern. Und jetzt kriege ich nicht mal ein anständiges Verfahren.»
«Ehrlich gesagt», meinte Denise, «find ich's schwer zu begreifen, was so schlimm daran sein soll, gefeuert zu werden. Colleges sind grässlich.»
«Ich hatte gedacht, das ist der einzige Ort auf der Welt, wo ich hinpasse.»
«Und ich sage, es spricht sehr für dich, dass es nicht so ist. Aber wie kommst du jetzt zurecht, finanziell, meine ich?»
«Wer hat gesagt, dass ich zurechtkomme?»
«Soll ich dir was leihen?»
«Du hast doch gar kein Geld, Denise.»
«Doch, habe ich. Außerdem finde ich, du solltest mit meiner Freundin Julia sprechen. Das ist die Frau, die bei der Produktionsfirma arbeitet. Ich habe ihr von deiner Idee erzählt, der Sache mit der East-Village-Version von Troilus und Cressida. Sie hat gesagt, du sollst sie anrufen, wenn du daraus was machen willst.»
Chip schüttelte den Kopf, als stünde Denise bei ihm in der Küche und könnte ihn sehen. Vor Monaten hatten sie sich am Telefon darüber unterhalten, ob es nicht möglich wäre, einige von Shakespeares weniger bekannten Dramen zu modernisieren, und er konnte es kaum ertragen, dass Denise dieses Gespräch ernst genommen hatte; dass sie immer noch an ihn glaubte.
«Und was ist mit Dad?», fragte sie. «Hast du vergessen, dass er heute Geburtstag hat?»
«Ich habe nicht auf die Zeit geachtet.»
«Ich würde dich ja nicht drängen», sagte Denise, «aber schließlich war ich diejenige, die dein Weihnachtspaket geöffnet hat.»
«Weihnachten war 'ne schlechte Nummer, keine Frage.»
«Welches Päckchen wem gehörte — reine Spekulation.»
Draußen war von Süden her Wind aufgekommen, ein Tauwind, der den schmelzenden Schnee noch schneller auf die hintere Terrasse tropfen ließ. Das Gefühl, das Chip gehabt hatte, als das Telefon klingelte — das Gefühl, dass er über sein Leiden frei verfügen konnte — , hatte ihn schon wieder verlassen.
«Also, rufst du ihn jetzt an?», fragte Denise.
Er legte auf, ohne ihr geantwortet zu haben, stellte den Klingelton ab und presste sein Gesicht gegen den Türrahmen. Das Problem, was er seinen Familienangehörigen zu Weihnachten schenken sollte, hatte er am letztmöglichen Versandtag gelöst, indem er in allergrößter Eile alte Schnäppchen und Mängelexemplare aus seinen Bücherregalen gezogen, sie in Alufolie eingewickelt und mit rotem Band verschnürt hatte, wobei er es tunlichst vermied, sich vorzustellen, was zum Beispiel sein neunjähriger Neffe Caleb zu einer kommentierten Oxford-Ausgabe von Scotts Ivanhoe sagen würde, deren Haupteignung als Geschenk darin bestand, dass sie noch in die Originalplastikfolie eingeschweißt war. Die Ecken der Bücher stachen sofort durch das Silberpapier, und die zusätzliche Folie, mit der er die Löcher abdeckte, haftete nicht gut an den unteren Schichten, sodass das Ganze weich und schalig aussah, wie eine Zwiebel oder wie Blätterteig, ein Effekt, den er zu mildern versuchte, indem er jedes Paket mit den Weihnachtsstickern der Nationalen Liga für das Recht auf Abtreibung beklebte, die ihm mit seiner jährlichen Mitgliedsmappe zugegangen waren. Sein Machwerk sah so unbeholfen und kindisch aus, ja zeugte, wenn er ehrlich war, von einer solchen seelischen Unausgeglichenheit, dass er die Päckchen in einen alten Pampelmusenkarton warf, damit sie ihm aus den Augen waren. Dann schickte er den Karton per FedEx an Garys Adresse in Philadelphia. Er fühlte sich, als hätte er einen gewaltigen Durchfall überstanden, als wäre er, egal, wie schmierig und widerlich es gewesen war, jetzt wenigstens entleert und würde nicht so schnell wieder in eine ähnliche Lage kommen. Drei Tage später jedoch, am Weihnachtsabend, als er nach zwölfstündiger Wache im Dunkin' Donuts von Norwalk, Connecticut, nach Hause kam, stand er vor dem Problem, die Geschenke öffnen zu müssen, die seine Familie ihm geschickt hatte: zwei Pakete aus St. Jude, eine gepolsterte Versandtasche von Denise und ein Paket von Gary. Er beschloss, die Geschenke im Bett aufzumachen und sie, um sie in sein Schlafzimmer hinaufzubefördern, mit dem Fuß die Treppe hochzukicken. Was sich als Herausforderung erwies, neigten längliche Gegenstände doch dazu, an den Stufen hängen zu bleiben und wieder herunterzupurzeln. Und eine Versandtasche, deren Inhalt so leicht war, dass sie keinen Trägheitswiderstand bot, mit Fußtritten überhaupt anzulüpfen war auch nicht ganz ohne. Doch Chips Weihnachtsabend war bisher so ungeheuer trostlos und demoralisierend verlaufen — er hatte eine Nachricht auf Melissas Anrufbeantworter im College hinterlassen und sie gebeten, ihn auf dem Münztelefon im Dunkin' Donuts zurückzurufen oder, besser noch, vom Haus ihrer Eltern in der Nähe von Westport in persona dorthin zu kommen, und erst gegen Mitternacht hatte er erschöpft einsehen müssen, dass Melissa sich vermutlich nicht bei ihm melden und ihn schon gar nicht besuchen würde — , dass er sich psychisch jetzt weder imstande fühlte, gegen die Regeln des selbst erfundenen Spiels zu verstoßen, noch dieses Spiel beenden konnte, bevor er am Ziel war. Er wusste, dass die Regeln nur echte, harte Schüsse zuließen (verboten war insbesondere, den Fuß unter die Versandtasche zu schieben und sie durch Stupsen oder Anheben voranzutreiben), weshalb er gezwungen war, seinem Weihnachtspaket von Denise Fußtritte von eskalierender Grobheit zu versetzen, bis es aufriss, die Füllung aus Zeitungspapierfetzen herausquoll und er die kaputte Hülle so mit der Stiefelspitze erwischte, dass das Geschenk in einem langen, sauberen Bogen nach oben flog und nur eine Stufe unterhalb der ersten Etage landete. Über den Rand der letzten Stufe war es allerdings nicht hinwegzubewegen. Mit den Hacken zertrampelte, zertrat und zerkleinerte Chip den Umschlag. Ein Durcheinander von rotem Papier und grüner Seide wurde sichtbar. Da verletzte er die von ihm selbst aufgestellte Regel und scharrte den ganzen Schlamassel über die oberste Stufe, kickte ihn den Flur entlang, ließ ihn neben seinem Bett liegen und ging wieder hinunter, um sich den anderen Paketen zu widmen. Er schaffte es, auch diese mehr oder weniger zu zerstören, bevor er auf die Idee kam, sie von einer der unteren Stufen abprallen zu lassen und, sobald sie in der Luft waren, mit einem einzigen Tritt nach oben zu pfeffern. Als er mit Garys Paket so verfuhr, explodierte es in einer Wolke aus weißen Styroporscheiben. Eine in Luftbläschenplastik gewickelte Flasche fiel heraus und rollte die Treppe hinunter. Es war erlesener kalifornischer Portwein. Chip trug ihn zu seinem Bett und entwickelte einen Rhythmus, der es ihm erlaubte, sich für jedes Geschenk, das er ausgepackt hatte, einen großen Schluck Portwein zu genehmigen. Von seiner Mutter, die zu glauben schien, dass er immer noch einen Strumpf an seinen Kamin hängte, hatte er eine Kiste mit der Aufschrift Strumpffüllungen bekommen, die kleine, einzeln verpackte Gegenstände enthielt: eine Tüte Hustenbonbons, ein Miniatur-Schulfoto von ihm selbst als Zweitklässler in einem angelaufenen Messingrahmen, Plastikfläschchen mit Shampoo, Spülung und Handlotion aus einem Hotel in Hongkong, in dem Enid und Alfred vor elf Jahren auf dem Weg nach China übernachtet hatten, sowie zwei holzgeschnitzte Elfen mit kitschig breitem Lächeln und Schlaufen aus silbernem Band in den kleinen Schädeln, zum Aufhängen am Baum. Unter ebendiesen mutmaßlichen Baum sollte gelegt werden, was Enid ihm in einer zweiten Kiste schickte, größere, in rotes Weihnachtsmanngesichter-Papier geschlagene Geschenke: einen Spargeltopf, drei Paar weiße Jockey-Unterhosen, einen riesigen Lolli und zwei Zierkissen aus Kattun. Von Gary und dessen Frau hatte Chip, außer dem Port, eine raffinierte kleine Vakuumpumpe bekommen, mit der man Weinreste vor dem Oxydieren bewahren konnte, als hätten Weinreste je zu Chips Problemen gehört. Von Denise, der er Ausgewählte Briefe von André Gidé geschenkt hatte, nicht ohne den Beweis, dass ihm diese besonders uninspirierte Übersetzung einstmals einen Dollar wert gewesen war, vom Deckblatt zu löschen, bekam er ein wunderschönes limettengrünes Seidenhemd, und sein Vater hatte ihm einen Scheck über einhundert Dollar zugedacht, mit der von Hand geschriebenen Anweisung, sich damit irgendeinen Wunsch zu erfüllen.