In den seither verstrichenen Tagen hatte er nicht die Kraft gehabt, den Tisch abzuräumen. Er betrachtete den schwarz gewordenen roten Blattsalat, die Haut aus erstarrtem Fett auf einem übrig gebliebenen Lammkotelett, das Chaos aus Korken und Asche. Die Schande und Unordnung in seiner Wohnung entsprachen der Schande und Unordnung in seinem Kopf. Cali Lopez war inzwischen amtierende College-Rektorin, als Nachfolgerin Jim Levitons.
Erzählen Sie mir von Ihrem Verhältnis zu Ihrer Studentin Melissa Paquette.
Meiner ehemaligen Studentin?
Ihrer ehemaligen Studentin.
Wir sind befreundet. Wir waren zusammen essen. Ich habe zu Beginn der Thanksgiving-Ferien ein wenig Zeit mit ihr verbracht. Sie ist eine hervorragende Studentin.
Haben Sie Melissa bei einer Arbeit geholfen, die sie letzte Woche bei Vendia O'Fallon eingereicht hat?
Wir haben nur ganz allgemein über die Arbeit gesprochen. In einigen Bereichen hatte sie Fragen, und ich konnte ihr dabei helfen, sie zu klären.
Ist Ihre Beziehung zu ihr sexueller Natur?
Nein.
Chip, ich denke, wir werden Sie erst einmal, bei fortlaufendem Gehalt, vom Dienst suspendieren, bis es zu einer ordentlichen Anhörung kommt. Ja, so machen wir das. Die Anhörung wird Anfang nächster Woche sein, und bis dahin sollten Sie sich wohl einen Anwalt besorgen und mit Ihrem Gewerkschaftsvertreter sprechen. Außerdem muss ich darauf bestehen, dass Sie nicht versuchen, Kontakt mit Melissa Paquette aufzunehmen.
Was hat sie gesagt? Dass ich ihre Arbeit geschrieben habe?
Melissa hat den Ehrenkodex verletzt, indem sie eine Arbeit abgegeben hat, die nicht von ihr stammt. Jetzt droht ihr die Suspendierung für ein Semester, aber es scheint, als gebe es da gewisse mildernde Umstände. Zum Beispiel das äußerst unangebrachte sexuelle Verhältnis, das Sie mit ihr unterhalten haben.
Hat sie das gesagt?
Mein persönlicher Rat, Chip — kündigen Sie.
Hat sie das gesagt?
Sie haben keine Chance.
Schmelzwasser pladderte noch heftiger auf seine Terrasse. Er zündete sich an der vorderen Flamme des Gasherds eine Zigarette an, nahm zwei schmerzhafte Züge und presste die Glut gegen die Innenfläche seiner Hand. Er stöhnte mit zusammengebissenen Zähnen, öffnete den Gefrierschrank, legte seine Handfläche auf dessen Boden und stand eine Minute so da, den Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase. Dann ging er mit einem Eiswürfel in der Hand zum Telefon und wählte die alte Vorwahl, die alte Nummer.
Während in St. Jude das Telefon klingelte, stellte er einen Fuß auf den Teil der Times in seinem Müll und stampfte ihn weiter nach unten, schaffte ihn sich aus den Augen.
«Oh, Chip», rief Enid, «er ist schon ins Bett gegangen!»
«Dann weck ihn nicht auf», sagte Chip. «Sag ihm nur — »
Doch schon hatte Enid den Hörer hingelegt und rief Al! Al! immer leiser klang ihre Stimme, je weiter sie sich auf dem Weg zum Schlafzimmer vom Telefon entfernte. Es ist Chip! hörte er sie rufen. Hörte den Anschluss im ersten Stock klicken. Hörte, wie Enid Alfred ermahnte: «Aber nicht bloß Hallo sagen und wieder einhängen. Plaudere ein bisschen mit ihm.»
Als sie ihm den Hörer reichte, knisterte es.
«Ja», sagte Alfred.
«Hey, Dad, herzlichen Glückwunsch», sagte Chip.
«Ja», sagte Alfred noch einmal mit der gleichen tonlosen Stimme.
«Tut mir Leid, dass ich so spät anrufe.»
«Ich hab noch nicht geschlafen.»
«Ich dachte schon, ich hätte dich geweckt.»
«Ja.»
«Also — alles Gute zum Fünfundsiebzigsten.»
«Ja.»
Chip hoffte, dass Enid, trotz schmerzender Hüfte, so schnell sie konnte in die Küche zurückhasten würde, um ihn zu erlösen. «Du bist sicher müde, und es ist spät», sagte er. «Wir brauchen nicht zu reden.»
«Danke für den Anruf», sagte Alfred.
Jetzt war Enid wieder in der Leitung. «Ich mache noch schnell den Abwasch fertig», sagte sie. «Wir haben heute Abend gefeiert! Al, erzähl doch Chip, wie wir gefeiert haben! Ich lege jetzt wieder auf.»
Sie hängte ein. Chip sagte: «Ihr habt gefeiert.»
«Ja. Die Roots waren hier, zum Abendessen und zum Bridge.»
«Hattest du einen Geburtstagskuchen?»
«Deine Mutter hat einen gebacken.»
Die Zigarette hatte ein Loch in Chips Körper gebrannt, durch das, er fühlte es deutlich, Schädliches eindringen und Lebenswichtiges entweichen konnte, und beides tat weh. Schmelzendes Eis rann über seine Finger. «Wie war das Bridgen?»
«Hatte wie üblich katastrophale Blätter.»
«Und das an deinem Geburtstag. Unfair.»
«Und du», sagte Alfred, «bist vermutlich dabei, dich für ein weiteres Semester zu rüsten.»
«Genau. Genau. Na ja, eigentlich nicht. Eigentlich habe ich beschlossen, dieses Semester nicht zu unterrichten.»
«Das hab ich nicht ganz verstanden.»
Chip hob die Stimme. «Ich sagte, ich habe beschlossen, dieses Semester nicht zu unterrichten. Ich nehme mir dieses Semester frei, um zu schreiben.»
«Nach meiner Erinnerung steht deine Berufung unmittelbar bevor.»
«Stimmt. Im April.»
«Mir scheint, dass man einem, der auf eine Berufung hofft, raten würde, an Ort und Stelle zu bleiben und zu unterrichten.»
«Stimmt.»
«Wenn sie sehen, dass du hart arbeitest, werden sie keinen Grund haben, dich nicht zu berufen.»
«Stimmt. Stimmt.» Chip nickte. «Aber ich muss mich auch auf die Möglichkeit vorbereiten, dass ich die Stelle nicht bekomme. Und ich habe ein, ähem. Ein sehr attraktives Angebot von einer Hollywood-Produzentin. Einer College-Freundin von Denise, die Filme produziert. Könnte sehr lukrativ sein.»
«Einer, der viel arbeitet, ist so gut wie unkündbar», sagte Alfred.
«Das Verfahren kann aber politisch entschieden werden. Ich
muss Alternativen haben.»
«Wie du meinst», sagte Alfred. «Ich habe allerdings festgestellt, dass es normalerweise das Beste ist, auf einem einmal eingeschlagenen Weg zu bleiben. Wenn du keinen Erfolg hast, kannst du immer noch etwas anderes machen. Aber du hast so viele Jahre gearbeitet, um bis zu diesem Punkt zu kommen. Ein Semester harte Arbeit mehr wird dir nicht schaden.»
«Stimmt.»
«Zurücklehnen kannst du dich, wenn du die Professur in der Tasche hast. Dann bist du in Sicherheit.»
«Stimmt.»
«Also, vielen Dank für den Anruf.»
«Gut. Herzlichen Glückwunsch, Dad.»
Chip ließ das Telefon fallen, ging aus der Küche, packte eine Fronsac-Flasche am Hals und hieb ihren Bauch hart auf die Kante seines Esstischs. Dann machte er eine zweite Flasche kaputt. Die übrigen sechs zerschmetterte er paarweise, einen Hals in jeder Faust.
Wut half ihm, die schwierigen Wochen, die folgten, zu überstehen. Er lieh sich zehntausend Dollar von Denise und nahm sich einen Anwalt, der dem D — College mit einer Klage wegen unrechtmäßiger Vertragsauflösung drohen sollte. Das war Geldverschwendung, aber tat ihm gut. Er fuhr nach New York und blätterte viertausend Dollar Maklergebühren und Mietkaution für eine Wohnung in der Ninth Street hin. Er kaufte sich Lederkleidung und ließ sich Löcher in die Ohren stechen. Er lieh sich noch mehr Geld von Denise und nahm Kontakt mit einem Freund aus College-Tagen auf, der das Warren Street Journal herausgab. Er sann auf Rache in Form eines Drehbuchs, das den Narzissmus und Verrat Melissa Paquettes und die Scheinheiligkeit seiner Kollegen an den Pranger stellen sollte; er wünschte sich, dass die Menschen, die ihn gekränkt hatten, den Film sehen, sich darin wiedererkennen und leiden würden. Er flirtete mit Julia Vrais und verabredete sich mit ihr, und schon bald gab er zwei- bis dreihundert Dollar die Woche aus, um sie zum Essen auszuführen und zu unterhalten. Er lieh sich noch mehr Geld von Denise. Er ließ Zigaretten von seiner Unterlippe hängen und haute einen Drehbuchentwurf in die Maschine. Julia schmiegte sich auf Taxirückbänken an seine Brust und klammerte sich an seinen Kragen. Er gab Kellnern und Taxifahrern dreißig bis vierzig Prozent Trinkgeld. Er zitierte Shakespeare und Byron in witzigen Zusammenhängen. Er lieh sich noch mehr Geld von Denise und fand, dass sie Recht hatte: Gefeuert worden zu sein war das Beste, was ihm je passiert war.