Immerhin war er nicht so naiv, Eden Procuros professionelle Ergüsse für bare Münze zu nehmen. Doch je öfter er privat mit Eden verkehrte, umso zuversichtlicher wurde er, dass ihr sein Drehbuch gefallen würde. Eines stand fest: Zu Julia war sie wie eine Mutter. Selbst nur fünf Jahre älter, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihre persönliche Assistentin völlig neu zu eichen und einer Optimierung zu unterziehen. Während Chip nie ganz das Gefühl loswurde, dass Eden hoffte, die Rolle von Julias Liebhaber mit jemand anderem zu besetzen (sie bezeichnete ihn stets als Julias «Begleiter», nicht als ihren «Freund», und wenn sie von Julias «unangezapftem Potenzial» und ihrem «mangelnden Selbstvertrauen» sprach, vermutete er, dass die Partnerwahl zu jenen Bereichen gehörte, in denen sie bei Julia Optimierungschancen sah), versicherte Julia ihm, dass Eden ihn «unheimlich lieb» und «extrem gescheit» finde. Zweifellos war Edens Ehemann, Doug O'Brien, auf seiner Seite. Doug war Fusions- und Kaufvertragsexperte bei Bragg Knuter & Speigh. Er hatte Chip einen Job als Korrektor mit flexibler Arbeitszeit verschafft und dafür gesorgt, dass Chip den höchsten Stundensatz bekam. Wann immer Chip ihm für diesen Gefallen danken wollte, winkte Doug verächtlich ab. «Sie sind der Mann mit dem Doktortitel», sagte er. «Das Buch, das Sie da geschrieben haben, ist beängstigend gescheit.» Schon bald war Chip ein häufiger Gast bei den O'Brien-Procuro'schen Abendessen in Tribeca und ihren Wochenendpartys in Quogue. Wenn er ihren Alkohol trank und die Häppchen ihres Partyservice aß, genoss er den Vorgeschmack eines Erfolgs, der hundertmal süßer als eine Festanstellung war. Er hatte das Gefühl, wirklich zu leben.
Dann, eines Abends, bat Julia ihn, sich ganz ruhig hinzusetzen, sie müsse ihm nämlich etwas Wichtiges erzählen, das sie bisher nicht erwähnt habe, und ob er ihr versprechen könne, ihr nicht allzu böse zu sein? Was sie ihm erzählen müsse, sei, dass sie quasi einen Ehemann habe. Er habe vielleicht schon mal von dem stellvertretenden Premierminister von Litauen — jenem kleinen Land im Baltikum — gehört, einem Mann namens Gitanas Misevicius? Nun, die Sache sei die: Diesen Mann habe sie vor ein paar Jahren geheiratet, hoffentlich sei Chip ihr deshalb nicht allzu böse.
Sie habe wohl ein Problem mit Männern, sagte sie, weil sie ohne Männer aufgewachsen sei. Ihr Vater sei ein manisch-depressiver Bootsverkäufer gewesen, sie erinnere sich an eine einzige Begegnung mit ihm, auf die sie im Nachhinein lieber verzichtet hätte. Ihre Mutter, Geschäftsführerin einer Kosmetikfirma, habe sie zu deren eigener Mutter abgeschoben, und die habe sie auf eine katholische Mädchenschule geschickt. Ihre erste nennenswerte Erfahrung mit Männern habe sie am College gemacht. Dann sei sie nach New York gezogen und habe angefangen, ein langwieriger Prozess übrigens, mit jedem unehrlichen, zuweilen sadistischen, unheilbar bindungsunwilligen attraktiven Kerl im Bezirk Manhattan ins Bett zu steigen. Mit achtundzwanzig habe sie außer ihrem Aussehen, ihrer Wohnung und ihrem festen Job (der allerdings hauptsächlich dann bestanden habe, ans Telefon zu gehen) wenig gehabt, worauf sie hätte stolz sein können. Als sie daher in einem Club Gitanas kennen gelernt und Gitanas sie ernst genommen und irgendwann einen echten, nicht eben kleinen Diamanten in weißgoldener Fassung zutage gefördert habe und offensichtlich in sie verliebt gewesen sei (und immerhin war der Mann waschechter Botschafter bei den Vereinten Nationen gewesen, und auf einer der Vollversammlungen habe sie selbst gehört, wie er sein baltisches Gepolter vom Stapel ließ), da also habe sie ihr Möglichstes getan, um ihm seine Freundlichkeit zu vergelten. Sie sei «so liebenswürdig wie nur irgend möglich» gewesen. Sie habe Gitanas nicht enttäuschen wollen, obwohl es, rückblickend, wahrscheinlich besser gewesen wäre, sie hätte ihn enttäuscht. Gitanas sei ein ganzes Stück älter als sie und im Bett einigermaßen aufmerksam gewesen (nicht so aufmerksam wie Chip, beeilte Julia sich zu sagen, aber eben, du weißt schon, auch nicht schlecht), und was die Sache mit der Hochzeit angehe, habe er den Eindruck erweckt, er wisse, was er tue, und so sei sie eines Tages mit ihm zum Standesamt marschiert. Wenn es nicht so idiotisch geklungen hätte, dann hätte sie sich vielleicht sogar «Mrs. Misevicius» genannt. Kaum sei sie jedenfalls verheiratet gewesen, habe sie gemerkt, dass die Marmorfußböden und die schwarzen Lackmöbel und die klobigen modernen Rauchglas-Nippsachen im Apartment des Botschafters am East River keineswegs so amüsant und camp waren, wie sie gedacht habe. Vielmehr seien sie unerträglich bedrückend gewesen. Sie habe Gitanas überredet, die Wohnung abzustoßen (der Chef der paraguayischen Delegation habe sie mit Kusshand übernommen) und stattdessen eine kleinere, schönere Wohnung in der Hudson Street zu kaufen, in der Nähe einiger guter Bars. Außerdem habe sie einen kompetenten Haarstylisten für Gitanas aufgetrieben und ihm beigebracht, nur Kleidungsstücke aus Naturfasern zu tragen.
Alles schien großartig zu laufen… Doch an irgendeiner Stelle mussten Gitanas und sie sich missverstanden haben, denn als seine Partei (die VIPPPAKJRIINPB17: die einzige wahrhaft und unerschütterlich den revanchistischen Idealen von Kazimieras Jaramaitis und dem «unabhängigen» Volksentscheid vom 17. April verpflichtete Partei) im September eine Wahl verlor und ihn nach Vilnius zurückbeorderte, damit er in die parlamentarische Opposition ging, nahm er selbstverständlich an, dass Julia ihn begleiten würde. Und die Idee vom einen Fleisch, vom Weib, das dem Mann anhänge und so weiter, hatte Julia ja auch durchaus verstanden; aber in seinen Beschreibungen des postsowjetischen Vilnius hatte Gitanas ein Bild von chronischer Kohle- und Elektrizitätsknappheit, eisigem Sprühregen, Schüssen aus vorbeifahrenden Autos und einer stark auf Pferdefleisch setzenden Ernährung gezeichnet. Und da hatte sie Gitanas etwas ganz Furchtbares angetan, definitiv das Schlimmste, was sie jemals einem Menschen angetan hatte. Sie hatte eingewilligt, mit ihm in Vilnius zu leben, war sogar mit ihm ins Flugzeug gestiegen und hatte sich in die erste Klasse gesetzt, und dann war sie davongeschlichen, hatte ihre Telefonnummer geändert und Eden gebeten, Gitanas zu sagen, dass sie verschwunden sei, falls er sich bei ihr melden sollte. Sechs Monate später war Gitanas für ein Wochenende nach New York zurückgekehrt und hatte dafür gesorgt, dass Julia ein richtig schlechtes Gewissen bekam. Klar, sie hatte sich indiskutabel benommen. Doch Gitanas hörte nicht auf, sie mit gewissen derben Ausdrücken zu beschimpfen, und schlug sie ziemlich hart. Was zur Folge hatte, dass sie nicht mehr zusammenleben konnten, aber als Gegenleistung dafür, dass sie weiter in der Hudson Street wohnen durfte, blieb sie mit Gitanas verheiratet, weil es durchaus möglich war, dass er einmal auf schnelles Asyl in den Vereinigten Staaten angewiesen wäre, denn die Lage in Litauen verschlechterte sich zusehends.
Na ja, das sei also die Geschichte von Gitanas und ihr, hoffentlich sei Chip ihr deshalb nicht allzu böse.