Und das war er nicht. Im ersten Augenblick störte es ihn nicht nur kein bisschen, dass Julia verheiratet war, es begeisterte ihn sogar. Ihre Ringe faszinierten ihn, und er brachte Julia dazu, sie im Bett zu tragen. In den Büroräumen des Warren Street Journal, wo er sich bisweilen nicht transgressiv genug fühlte, so als wäre er im tiefsten Innersten immer noch der nette Junge aus dem Mittelwesten, bereitete es ihm diebisches Vergnügen, auf den europäischen Staatsmann anzuspielen, den er «zum Hahnrei mache». In seiner Dissertationsschrift («Zweifelhafter Stand: Phallusängste im Drama der Tudorzeit») hatte er sich ausgiebig über Hahnreie verbreitet, und unter dem Deckmantel seiner missbilligenden modernen Wissenschaftlichkeit hatte ihn die Idee, dass die Ehe ein Eigentumsrecht und der Ehebruch Diebstahl sei, geradezu körperlich erregt.
Doch es dauerte nicht lange, und das prickelnde Gefühl, im Revier des Diplomaten zu wildern, wich bürgerlichen Phantasien, in denen Chip höchstselbst Julias Ehemann war — ihr Herr und Gebieter. In Schüben überfiel ihn Eifersucht auf Gitanas Misevicius, der zwar Litauer und ein Schläger sein mochte, aber auch ein erfolgreicher Politiker war, dessen Namen Julia mittlerweile zerknirscht, ja beinahe wehmütig aussprach. Am Neujahrsabend fragte Chip sie rundheraus, ob sie je an Scheidung gedacht habe. Sie antwortete, dass ihr die Wohnung gefalle («Die Miete ist nicht zu unterbieten!») und sie im Augenblick keine Lust habe, sich eine andere zu suchen.
Nach Neujahr widmete Chip sich wieder seiner Rohfassung der «Akademischen Würden», die er in einem euphorischen Zwanzig-Seiten-Ausbruch in die Tasten gehämmert hatte, und gelangte zu der Auffassung, dass es vieles daran zu bemängeln gab. Im Grunde war das alles unzusammenhängende Stümperei. Einen Monat lang hatte er für teures Geld die Fertigstellung des Entwurfs gefeiert und die ganze Zeit gedacht, er könne bestimmte klischeehafte Elemente des Plots — die Verschwörung, den Autounfall, die bösen Lesbierinnen — herausnehmen und immer noch eine gute Geschichte erzählen. Jetzt hingegen sah er, dass ohne die klischeehaften Elemente überhaupt keine Geschichte mehr übrig blieb.
Zur Ehrenrettung seiner künstlerischen und intellektuellen
Ambitionen fügte er einen langen theoretischen Eingangsmonolog hinzu. Dieser Monolog jedoch war derart unverdaulich, dass Chip jedes Mal wenn er seinen Computer einschaltete, an ihm basteln musste. Bald brachte er fast seine ganze Arbeitszeit damit zu, wie ein Besessener an dem Monolog zu feilen. Und als er schließlich erkannte, dass er ihn nicht weiter kürzen konnte, ohne wesentliches thematisches Material zu opfern, begann er, an der Breite der Seitenränder und der Silbentrennung herumzudoktern, damit der Monolog auf Seite 6 unten endete statt oben auf Seite 7. Er tauschte den Ausdruck «in der Folge» gegen «somit» aus, um sieben Anschläge einzusparen, sodass das Wort «(Trans)akt(ion)en» nach dem s getrennt werden konnte, was einen ganzen Rattenschwanz längerer Zeilen und effektvollerer Trennungen nach sich zog. Dann wieder fand er, dass «somit» den falschen Rhythmus hatte und «(Trans)akt(ion)en» unter gar keinen Umständen getrennt werden durfte, also durchforstete er den Text nach anderen längeren Ausdrücken, die sich durch kürzere Synonyme ersetzen ließen, während er die ganze Zeit über zu glauben versuchte, dass Stars und Produzenten in Prada-Sakkos sich freuen würden, wenn sie sechs (nicht aber sieben!) Seiten hochtrabender theoretischer Ausführungen lesen dürften.
Einmal, als er noch ein kleiner Junge war, hatte im Mittelwesten eine totale Sonnenfinsternis stattgefunden, und ein Mädchen aus einem der Käffer, die, von St. Jude aus gesehen, jenseits des Flusses lagen, hatte draußen gesessen und unzähligen Warnungen zum Trotz so lange die kleiner werdende Sonnensichel beobachtet, bis ihre Netzhaut verbrannt war.
«Es hat überhaupt nicht wehgetan», erzählte das erblindete Mädchen dem St. Jude Chronicle später. «Ich habe gar nichts gefühlt.»
Jeder Tag, den Chip damit zubrachte, den Leichnam eines dramaturgisch toten Monologs zu pflegen, war ein Tag, an dem seine Miete, sein Essen und seine Freizeitvergnügungen hauptsächlich vom Geld seiner kleinen Schwester bestritten wurden. Doch solange das Geld reichte, litt er nicht akut. Ein Tag ging in den nächsten über. Selten stand er vor zwölf Uhr mittags auf. Er genoss sein Essen und seinen Wein, kleidete sich gut genug, um sich weiszumachen, dass er kein formloses, gallertartiges Etwas war, und schaffte es an vier von fünf Abenden, seine schlimmsten Ängste und Befürchtungen zu verbergen und mit Julia auszugehen. Da die Summe, die er Denise schuldete, im Vergleich zu seinen Einkünften als Korrektor zwar groß, nach Hollywood-Maßstäben jedoch klein war, arbeitete er immer weniger bei Bragg Knuter & Speigh. Seine einzige wirkliche Sorge galt seiner Gesundheit. Wenn er an einem Sommertag seine Arbeitsstunden damit zubrachte, den ersten Akt noch einmal zu lesen, und ihm erneut klar wurde, wie rettungslos missraten das Ganze war, und er nach draußen eilte, um frische Luft zu schnappen, den Broadway entlanglief und sich auf Höhe der Battery Park City auf eine Bank setzte, sich die Brise vom Hudson in den Kragen wehen ließ und dem unablässigen Pft-pft des Hubschrauberverkehrs sowie den fernen Rufen der Millionärskinder aus Tribeca lauschte, dann übermannten ihn bisweilen die Schuldgefühle. So kräftig und gesund und zugleich eine solche Niete zu sein: weder den Vorteil, dass er nächtens gut schlief und es schaffte, keine Erkältung zu bekommen, für seine Arbeit zu nutzen, noch sich in Urlaubsstimmung fallen zu lassen und mit fremden Frauen zu flirten und sich Margeritas hinter die Binde zu gießen. Es wäre besser gewesen, dachte er, das Krankwerden und Sterben jetzt zu erledigen, da er versagte, und sich seine Gesundheit und Vitalität für spätere Tage aufzuheben, da er, so unvorstellbar diese Aussicht auch sein mochte, vielleicht einmal nicht mehr versagen würde. Von all den Dingen, die er verschwendete — Denise' Geld, Julias Wohlwollen, sein Talent und seine Ausbildung, die Chancen, die der längste Abschnitt wirtschaftlichen Aufschwungs in der amerikanischen Geschichte bot — , bereitete ihm sein schieres körperliches Wohlbefinden, dort im Sonnenschein am Fluss, den größten Schmerz.
An einem Freitag im Juli war das Geld alle. Vor ihm lag ein Wochenende mit Julia, das ihn fünfzehn Dollar an der Erfrischungstheke im Kino kosten konnte, also eliminierte er die Marxisten aus seinem Bücherregal und schleppte sie in zwei sagenhaft schweren Taschen zum Antiquariat. Die Bücher steckten noch in den Originalschutzumschlägen und hatten einen Listenpreis von insgesamt 3900 Dollar. Der Einkäufer bei Strand taxierte sie beiläufig und verkündete sein Urteiclass="underline" «Fünfundsechzig.»
Chip lachte heiser und zwang sich, keine Diskussion anzufangen; aber seine britische Ausgabe von Jürgen Habermas' Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, die er schwer zu lesen, geschweige denn zu kommentieren gefunden hatte, war tadellos erhalten und hatte ihn 95 Pfund gekostet. Er konnte nicht umhin, dies, nur als Beispiel, anzumerken.
«Sie können es gern woanders versuchen, wenn Sie wollen», sagte der Antiquar und ließ seine Hand über der Kasse schweben.
«Nein, nein, Sie haben ja Recht», sagte Chip. «Fünfundsechzig ist prima.»
Dass er geglaubt hatte, seine Bücher würden ihm Hunderte von Dollars einbringen, war erbärmlich offenkundig. Er wandte sich von ihren vorwurfsvollen Rücken ab und erinnerte sich, wie jedes einzelne von ihnen damals, in den Buchhandlungen, eine radikale Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft verheißen hatte und wie glücklich er gewesen war, sie nach Hause zu tragen. Aber Jürgen Habermas hatte nicht Julias lange, kühle Birnbaumbeine, Theodor Adorno nicht Julias traubigen Duft lüsterner Geschmeidigkeit, Fred Jameson nicht Julias geschickte Zunge. Bis Anfang Oktober, als Chip sein fertiges Drehbuch an Eden Procuro schickte, hatte er seine Feministen, seine
Formalisten, seine Strukturalisten, seine Poststrukturalisten, seine Freudianer und seine Schwulen samt und sonders verkauft. Alles, was ihm noch blieb, um das Geld für ein Mittagessen mit seinen Eltern und Denise aufzubringen, waren seine geliebten Kulturhistoriker und seine gebundene Arden-Shakespeare- Gesamtausgabe, und da dem Shakespeare eine Art Zauber innewohnte — die uniformen Bände in ihren hellblauen Schutzumschlägen glichen einem Archipel sicherer Zufluchtsorte — , stapelte er seine Foucaults, Greenblatts, Hooks und Pooveys in Einkaufstüten und verscherbelte sie komplett für 115 Dollar.