Bald jedoch begannen Alfreds Hände, entkoffeinierten Kaffee auf den beigen Flächen des Teppichs zu verschütten, und herumtobende Enkelkinder hinterließen Beeren- und Buntstiftspuren, und Enid beschlich das Gefühl, dass der Teppich ein Fehler gewesen war. Ihr schien, dass sie in ihrem lebenslangen Bemühen, Geld zu sparen, etliche solcher Fehler gemacht hatte. Irgendwann meinte sie sogar, es wäre besser gewesen, sie hätten überhaupt keinen Teppich gekauft. Schließlich, als Alfreds Mittagsschläfchen tiefer und einer Verzauberung immer ähnlicher wurden, fasste sie sich ein Herz. Von ihrer Mutter hatte sie vor Jahren eine kleine Summe geerbt. Zum Kapital waren Zinsen gekommen, manche Aktien hatten sich ziemlich vorteilhaft entwickelt, und jetzt verfügte sie über ein eigenes Einkommen. Sie überlegte, wie sich das Familienzimmer neu gestalten ließe, und entschied sich für Grün- und Gelbtöne. Sie bestellte Stoffe. Ein Tapezierer kam, und Alfred, der seinen Mittagsschlaf vorübergehend im Esszimmer hielt, sprang auf, als hätte er schlecht geträumt.
«Dekorierst du schon wieder alles um?»
«Es ist mein eigenes Geld», sagte Enid. «Und jetzt geb ich es aus.»
«Und was ist mit dem Geld, das ich verdient habe? Was ist mit der Arbeit, die ich geleistet habe?»
Früher hatte dieses Argument stets gewirkt — es war, sozusagen, die verfassungsmäßige Grundlage für die Rechtfertigung seiner Tyrannei gewesen — , jetzt aber zog es nicht mehr. «Der Teppich ist fast zehn Jahre alt, und die Kaffeeflecken kriegen wir nie wieder raus», entgegnete Enid.
Alfred wies auf den blauen Sessel, der unter dem Plastiküberwurf des Tapezierers aussah wie etwas, das im Kipplader zu einem Kraftwerk transportiert werden sollte. Er zitterte, ungläubig, fassungslos, dass Enid diesen vernichtenden Einwand gegen ihre Anschauungen, jene eine Sache, die so überwältigend offensichtlich gegen ihre Pläne sprach, einfach vergessen haben sollte. Es war, als wäre die ganze Unfreiheit, in der er seine sieben Lebensjahrzehnte verbracht hatte, in jenem sechs Jahre alten, im Grunde jedoch brandneuen Sessel verkörpert. Er grinste, und sein Gesicht glühte, so grässlich, so unentrinnbar vollkommen war seine Logik.
«Und was passiert mit dem Sessel?», fragte er. «Was passiert mit dem Sessel?»
Enid schaute den Sessel an. Ihr Gesichtsausdruck war gequält, mehr nicht. «Ich habe den Sessel noch nie gemocht.»
Das war vermutlich das Schlimmste, was sie Alfred sagen konnte. Der Sessel war der einzige Hinweis, den er je auf seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft gegeben hatte. Enids Worte erfüllten ihn mit solcher Traurigkeit — er empfand so viel Mitleid, so viel Solidarität mit dem Sessel, so viel verblüfften Kummer über Enids Verrat — , dass er die Folie abzog, in die Arme des Sessels sank und einschlief.
(Daran konnte man Orte der Verzauberung erkennen: an Menschen, die auf diese Weise einschliefen.)
Als feststand, dass beides verschwinden musste, der Teppich ebenso wie Alfreds Sessel, wurden sie den Teppich ohne Mühe los. Enid hatte in der kostenlosen Lokalzeitung inseriert, und schon ging ihr eine nervöse, vogelhafte Frau ins Netz, die immer noch Fehler machte und ihre schlampig zusammengerollten Fünfziger aus der Handtasche hervorholte, sie mit zittrigen Fingern auseinander pulte und glatt strich.
Aber der Sessel? Der Sessel war ein Denkmal und ein Symbol und durfte nicht von Alfred getrennt werden. Man konnte ihn nur umstellen, und darum landete er im Keller, und Alfred folgte ihm. So kam es, dass im Haus der Lamberts, wie in St. Jude, wie im ganzen Land, das Leben unterirdisch gelebt wurde.
Enid hörte, wie Alfred oben Schubladen auf- und zumachte. Immer wenn sie ihre Kinder besuchen wollten, wurde er unruhig. Ihre Kinder zu besuchen, das war offenbar das Einzige, was ihm noch am Herzen lag.
Vor den schlierenlos sauberen Fenstern des Esszimmers herrschte das Chaos. Der rasende Wind, die verneinenden Schatten. Enid hatte überall nach dem Brief der Axon Corporation gesucht, aber sie konnte ihn nicht finden.
Alfred stand im Elternschlafzimmer und fragte sich, warum die Schubladen seiner Kommode offen waren, wer sie geöffnet hatte, ob er selbst es gewesen war. Er konnte nicht anders, als Enid die Schuld an seiner Verwirrung zu geben. Daran, dass sie ihr durch bloße Zeugenschaft zur Existenz verhalf. Daran, dass sie selber existierte, als eine Person, die diese Schubladen womöglich geöffnet hatte.
«Al? Was machst du da?»
Er drehte sich zur Tür um, in der sie aufgetaucht war. Dann begann er einen Satz: «Ich habe — », doch wenn er überrumpelt wurde, war jeder Satz ein Abenteuer im Wald, und sobald er die Lichtung, an der er den Wald betreten hatte, nicht mehr sah, bemerkte er, dass die Brotkrumen, die er zu seiner Orientierung hatte fallen lassen, von Vögeln aufgepickt worden waren, leisen, flinken, pfeilgeschwinden Dingern, die er in der Dunkelheit nicht recht ausmachen konnte, obwohl sie ihn in ihrem Hunger so zahlreich umschwärmten, dass es schien, als wären sie die Dunkelheit, als wäre die Dunkelheit nicht gleichförmig, keine Abwesenheit von Licht, sondern etwas Wimmelndes, Korpuskelhaftes, und in der Tat hatte er als emsiger Teenager in McKay's Treasury of English Verse für «dämmrig» das Wort «crepuscular» gefunden, woraufhin die Korpuskeln der Biologie, die Blutkörperchen nämlich, für immer in sein Verständnis dieses Wortes eingeflossen waren, sodass er sein gesamtes Erwachsenenleben hindurch die Dämmerung als Korpuskularität wahrgenommen hatte, vergleichbar der Körnigkeit eines hochempfindlichen Films, wie man ihn benutzte, wenn man bei schummriger Innenbeleuchtung fotografieren wollte, vergleichbar auch einer Art düsteren Verfalls; daher die Panik eines Mannes, den man, verraten und verkauft, tief im Wald allein gelassen hatte, wo die Dunkelheit eine Dunkelheit von Staren war, die den Sonnenuntergang verfinsterten, oder von schwarzen Ameisen, die ein totes Opossum stürmten, eine Dunkelheit, die nicht einfach nur da war, sondern die Wegmarkierungen, die er vernünftigerweise ausgelegt hatte, um sich nicht zu verlaufen, regelrecht verschlang; in der Sekunde jedoch, da er begriff, dass er die Orientierung verloren hatte, wurde die Zeit wunderbar langsam, und er entdeckte bis dahin nie geahnte Ewigkeiten im Abstand zwischen einem Wort und dem nächsten oder, besser gesagt: Er war gefangen in den Lücken zwischen den Wörtern und konnte bloß dastehen und zusehen, wie die Zeit ohne ihn weitereilte, wobei der gedankenlose, jungenhafte Teil von ihm blindlings durch den Wald davonstürzte, bis er außer Sichtweite war, während er, gefangen, der erwachsene Al, mit sonderbar unpersönlicher Spannung abwartete, ob der von panischem Schrecken erfüllte kleine Junge, auch wenn er nun nicht mehr wusste, wo er war oder an welcher Stelle er den Wald dieses Satzes betreten hatte, es vielleicht trotzdem schaffen würde, auf die Lichtung zu stolpern, auf der Enid, ohne irgendwelche Wälder wahrzunehmen, auf ihn wartete — «meinen Koffer gepackt», hörte er sich sagen. Das klang richtig. Possessivpronomen, Substantiv, Verb. Vor ihm stand ein Koffer, eine wichtige Bestätigung. Er hatte nichts verraten.