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«Aber die meisten irren sich», sagte Denise.

«Jeder hat ein Recht auf einen eigenen Geschmack», sagte Enid. «Jeder hat in diesem Land eine Stimme.»

«Leider!»

«Es reicht», sagte Alfred zu Denise. «Du wirst nie gewinnen.»

«Du redest wie ein Snob», sagte Enid.

«Mutter, du erzählst mir doch immer, wie sehr du dich über ein gutes selbstgekochtes Essen freust. Also, mir geht es genauso. Ich finde, ein Dessert, das einen halben Meter hoch ist, hat etwas Vulgäres, Disneyhaftes. Du kochst doch besser als — »

«Ach nein. Nein.» Enid schüttelte den Kopf. «Ich kann überhaupt nicht kochen.»

«Das stimmt einfach nicht! Woher habe ich wohl — »

«Nicht von mir», unterbrach Enid sie. «Ich weiß nicht, woher meine Kinder ihre Talente haben. Jedenfalls nicht von mir. Ich bin eine Niete als Köchin. Eine richtige Niete.» (Wie seltsam gut es tat, das zu sagen! Als würde sie siedendes Wasser auf Giftsumachblasen gießen.)

Denise richtete sich auf und hob ihr Glas. Enid, die ihr Leben lang nicht anders gekonnt hatte, als zu verfolgen, was auf anderer Leute Tellern vor sich ging, hatte beobachtet, dass Denise drei Bissen Lachs, ein wenig Salat und ein Stück Brotkruste gegessen hatte. Die Größe jeder dieser Portionen spottete der Größe jeder ihrer eigenen. Jetzt war Denise' Teller leer, und sie nahm sich nicht nach.

«Ist das alles, was du isst?», fragte Enid.

«Ja. Das war mein Mittagessen.»

«Du bist dünner geworden.»

«Nein, keineswegs.»

«Werd bloß nicht noch dünner», sagte Enid mit jenem dürren Lachen, hinter dem sie große Gefühle zu verbergen suchte.

Alfred führte gerade eine Gabel voll Lachs und Sauerampfersauce zum Mund. Das Essen löste sich von der Gabel und zerfiel in wild geformte Stücke.

«Ich finde, das ist Chip prima gelungen», sagte Enid. «Findest du nicht auch? Der Lachs ist zart und lecker.»

«Chip konnte schon immer gut kochen», sagte Denise.

«Al, schmeckt's dir? Al?»

Alfreds Griff um die Gabel hatte sich gelockert. Seine Unterlippe hing schlaff herab, aus seinem Blick sprach düsterer Argwohn.

«Schmeckt dir das Essen?», sagte Enid.

Er nahm seine linke Hand in die rechte und drückte sie. Die gepaarten Hände vibrierten gemeinsam weiter, während Alfred auf die Sonnenblumen in der Mitte des Tisches starrte. Es sah aus, als verschlucke er den säuerlichen Zug um seinen Mund, als würge er die Paranoia hinunter.

«Das alles hier hat Chip gemacht?»

«Ja.»

Er schüttelte den Kopf. Dass Chip gekocht hatte, jetzt aber nicht hier war, schien ihn zu überwältigen. «Meine Krankheit setzt mir mehr und mehr zu», sagte er.

«Was du hast, ist gar nicht schlimm», sagte Enid. «Wir müssen nur deine Medikamente neu dosieren lassen.»

Er schüttelte den Kopf. «Hedgpeth hat gesagt, der Verlauf sei unkalkulierbar.»

«Das Entscheidende ist, dass man nicht aufhört, etwas zu tun», sagte Enid, «dass man aktiv bleibt, einfach immer weitermacht.'»

«Nein. Du hast nicht zugehört. Hedgpeth hat ganz bewusst nichts versprochen.»

«Nach allem, was ich gelesen habe — » «Es ist mir völlig wurscht, was in deiner Zeitschrift steht. Ich bin nicht gesund, so viel hat Hedgpeth immerhin eingeräumt.»

Denise stellte mit steifem, durchgedrücktem Arm ihr Weinglas ab.

«Was sagst du zu Chips neuer Stellung?», fragte Enid sie strahlend.

«Seiner-?»

«Na ja, beim Wallstreet Journal.»

Denise musterte die Tischplatte. «Dazu hab ich keine Meinung.»

«Ist doch toll, findest du nicht?»;

«Ich hab dazu keine Meinung.»

«Glaubst du, dass er ganztags dort arbeitet?»

«Nein.»

«Ich habe nicht ganz verstanden, was für eine Stellung das ist.»

«Mutter, ich weiß nichts darüber.»

«Ist er immer noch juristisch tätig?»

«Du meinst, ob er noch Korrektur liest? Ja.»

«Also arbeitet er noch in der Kanzlei.»

«Er ist kein Anwalt, Mutter.»

«Ich weiß, dass er kein Anwalt ist.»

«Aber wenn du ‹juristisch tätig› oder ‹in der Kanzlei› sagst — erzählst du das auch deinen Freundinnen so?»

«Ich sage, er arbeitet in einer Anwaltskanzlei. Mehr nicht. In einer Anwaltskanzlei in New York City. Und das ist die Wahrheit. Er arbeitet schließlich dort.»

«Es ist irreführend, und das weißt du», sagte Alfred.

«Dann wäre es wohl besser, wenn ich gar nichts mehr sage.»

«Oder nur Dinge, die wahr sind», sagte Denise.

«Also, ich finde, er sollte Anwalt sein», sagte Enid. «Die Juristerei wäre perfekt für Chip. Er braucht die Stabilität eines richtigen Berufs. Er braucht eine Struktur in seinem Leben. Dad hat immer gemeint, er würde einen fabelhaften Anwalt abgeben. Ich dachte eher an Arzt, weil er sich früher so für die Wissenschaft begeistert hat, aber Dad hat in ihm immer den Anwalt gesehen. Nicht wahr, Al? Hast du nicht gemeint, er könnte ein fabelhafter Anwalt werden? Er ist so schlagfertig.»

«Enid, dafür ist es zu spät.»

«Ich dachte, die Arbeit in der Kanzlei könnte vielleicht sein Interesse wecken, und er würde noch mal studieren.»

«Viel zu spät.»

«Weißt du, Denise, mit Jura kann man alles Mögliche machen. Man kann Geschäftsführer werden. Oder Richter! Oder Lehrer. Oder man wird Journalist. Es gibt so viele Richtungen, in die Chip gehen könnte.»

«Chip wird tun, was er will», sagte Alfred. «Ich habe das nie verstanden, aber ändern wird er sich jetzt nicht mehr.»

Zwei Blocks marschierte er durch den Regen, bevor er einen Wählton fand. An der ersten Doppelsäule, an der er vorbeikam, hing ein kastriertes Telefon mit bunten Quasten am Ende der Schnur, und alles, was von dem zweiten übrig war, waren vier Bolzenlöcher. An der nächsten Kreuzung klebte im Münzschlitz des einen Gerätes Kaugummi, und die Leitung seines Zwillings war komplett tot. Ein anderer Mann in Chips Lage hätte, um seinem Ärger Luft zu machen, vermutlich den Hörer auf den Kasten geknallt und die Plastikscherben im Rinnstein liegen lassen, aber dafür hatte es Chip zu eilig. An der Ecke Fifth Avenue probierte er es erneut. Das eine Telefon gab zwar einen Wählton von sich, zeigte aber, wenn er auf die Tasten drückte, keine Reaktion und rückte auch seinen Vierteldollar nicht wieder heraus, weder als er ganz gesittet auflegte, noch als er den Hörer auf die Gabel schmetterte. Das zweite Telefon hatte einen Wählton und nahm sein Geld an, aber eine Baby-Bell-Stimme behauptete, die Nummer nicht zu kennen, die er gewählt hatte, und behielt die Münze ein. Er versuchte es noch einmal, und prompt war er seinen letzten Vierteldollar los.

Beim Anblick der großen Geländewagen, die in bremsbereiter Schlechtwettermanier vorbeigeschlichen kamen, lächelte er. Die Portiers in diesem Viertel spritzten zweimal am Tag die Bürgersteige ab, und Reinigungsfahrzeuge mit Bürsten, die den Schnurrbärten von Verkehrspolizisten ähnlich sahen, säuberten dreimal wöchentlich die Straßen, doch um auf Dreck und Filz zu stoßen, musste in New York City nie jemand lange gehen. Auf einem Straßenschild meinte er Filz Avenue zu lesen. Gewisse handliche Geräte waren dabei, den öffentlichen Telefonen den Garaus zu machen. Doch anders als Denise, die Handys für ein ordinäres Accessoire ebenso ordinärer Leute hielt, und anders als Gary, der sie nicht nur nicht verabscheute, sondern jedem seiner drei Jungen eines gekauft hatte, verabscheute Chip Handys vor allem deshalb, weil er selbst keins besaß.

Unter dem dürftigen Schutz von Denise' Schirm wechselte er wieder auf die andere Straßenseite und betrat ein Deli am University Place. Braune Pappe lag vor der Tür, um den abgenutzten Teppich zu schonen, aber die Pappe war aufgeweicht und zertrampelt, und die Fetzen ähnelten an Land gespültem Kelp. Schlagzeilen in Drahtkörben neben der Tür berichteten vom gestrigen Kollaps zweier weiterer südamerikanischer Wirtschaftssysteme sowie von neuen Kursstürzen auf Schlüsselmärkten in Fernost. Hinter der Kasse hing ein Lotterie-Poster: Hier geht's nicht ums Gewinnen. Hier geht's um Spaß™.