Von zwei der vier Dollarscheine in seiner Brieftasche kaufte Chip sich Naturlakritze, die er so gern aß. Für den dritten gab ihm der Verkäufer vier Quarter. «Ich nehme noch ein Rubbellos», sagte Chip.
Dreiblättriges Kleeblatt, hölzerne Harfe und goldener Dukatentopf — die Kombination, die er auswickelte, war weder gewinn- noch spaßverdächtig.
«Gibt es hier ein Münztelefon, das funktioniert?»
«Keine Münztelefon», sagte der Verkäufer.
«Ich meine, ist hier in der Nähe irgendwo eins, das funktioniert?»
«Keine Münztelefon!» Der Verkäufer griff unter den Ladentisch, hielt dann ein Handy hoch. «Diese Telefon.»
«Kann ich das mal kurz benutzen?»
«Zu spät für Börse. Besser gestern anrufen. Besser amerikanisch kaufen.»
Der Verkäufer lachte auf eine Weise, die umso beleidigender war, als sie so gut gelaunt wirkte. Aber Chip hatte allen Grund, empfindlich zu sein. Seit das D — College ihn gefeuert hatte, war die Marktkapitalisierung an der Börse gehandelter US-Firmen um fünfunddreißig Prozent gestiegen. In ebendiesen zweiundzwanzig Monaten hatte Chip einen Rentenfonds liquidiert, ein gutes Auto verkauft, achtzig Prozent eines Ganztagsgehalts verdient, obwohl er nur halbtags arbeitete, und sich dennoch an den Rand des Ruins manövriert. Dies waren Jahre, in denen es in Amerika nahezu unmöglich schien, kein großes Geld zu machen, Jahre, in denen Sekretärinnen ihren Brokern MasterCard-Schecks zu Kreditzinsen von jährlich 13,9 % ausschrieben und trotzdem Gewinne erzielten, es waren Jahre der Kaufoptionen, Prämienjahre, nur Chip hatte den Anschluss verpasst. Er spürte es in den Knochen: Wenn es ihm je gelänge, «Akademische Würden» zu versilbern, dann hätten die Märkte bestimmt gerade eine Woche zuvor den Höchststand erreicht, und alles, was er investiert hatte, wäre verloren.
Julias negativer Reaktion auf sein Drehbuch nach zu urteilen, hatte die amerikanische Wirtschaft allerdings noch eine ganze Weile lang nichts zu befürchten.
Im Cedar Tavern, ein Stück weiter die Straße hinauf, fand er ein funktionierendes Münztelefon. Jahre schienen vergangen, seit er hier, am Abend zuvor, zwei Drinks zu sich genommen hatte. Er wählte Eden Procuros Büronummer und hängte sofort wieder ein, als ihr Anrufbeantworter ansprang, doch der Vierteldollar war schon durchgefallen. Im Telefonbuch war der private Anschluss eines Doug O'Brien aufgeführt, und Doug nahm sogar ab, aber er musste gerade eine Windel wechseln. Einige Minuten verstrichen, bis Chip ihn fragen konnte, ob Eden das Drehbuch schon gelesen habe.
«Phänomenal. Phänomenales Projekt», sagte Doug. «Ich glaube, sie hatte es dabei, als sie wegging.»
«Wissen Sie, wohin sie wollte?»
«Chip, Sie wissen doch, dass ich Leuten nicht sagen kann, wo sie ist. Das wissen Sie doch.»
«Ich glaube, man könnte die Situation als dringend bezeichnen.»
Bitte zahlen Sie — achtzig Cent — für die nächsten — zwei Minuten «Meine Güte, ein Münztelefon», sagte Doug. «Ist das ein Münztelefon?»
Chip warf seine letzten beiden Vierteldollarmünzen ein. «Ich muss das Drehbuch wiederhaben, bevor sie es liest. Ich möchte noch eine Korrektur — »
«Das hat doch nichts mit Titten zu tun, oder? Eden sagt, Julia hätte sich über zu viele Titten beschwert. Darüber würde ich mir mal keine Sorgen machen. Im Allgemeinen kann es gar nicht genug davon geben. Julia hat eine ziemlich anstrengende Woche hinter sich.»
Bitte zahlen Sie — jetzt — dreißig Cent «Ihnen was», sagte Doug.
für die nächsten — zwei Minuten «der Ort, wo Sie sie am ehesten — »
sonst wird Ihr Gespräch beendet «Doug?», sagte Chip. «Doug? Ich hab Sie nicht verstanden.»
Es tut uns Leid «Ja, ich bin noch dran. Ich sagte, versuchen Sie es mal — »
Auf Wiedersehen, sagte die Automatenstimme, dann war die Leitung tot, und die vergeudeten Münzen klingelten im Bauch des Telefons. Der Aufkleber vorne am Kasten war in den Farben der Firma Baby Bell gehalten, der Text lautete jedoch: ORFIC TELECOM,
3 MINUTEN 25 ct, jede weitere Min. 40 ct.
Der Ort, wo er Eden am ehesten antreffen würde, war ihr Büro in Tribeca. Chip ging zur Theke und fragte sich, ob die neue Barkeeperin, die mit ihren blonden Strähnchen aussah, als wäre sie die Leadsängerin einer dieser Bands, die auf College-Bällen spielten, sich wohl vom Vorabend noch gut genug an ihn erinnerte, um als Pfand für einen Zwanzig-Dollar-Kredit seinen Führerschein zu akzeptieren. Sie und zwei einsame Trinker schauten auf irgendeinem Sender Football, die Nittany Lions im Einsatz, das Bild eine trübe Suppe, bräunliche, zappelnde Gestalten in einem kreidigen Tümpel. Und gar nicht weit von Chips Arm, ach, nicht einmal fünfzehn Zentimeter entfernt, lagen ein paar Dollarscheine. Lagen da einfach so herum. Er überlegte, ob eine stillschweigende Transaktion (das Geld einstecken, sich hier nie wieder blicken lassen, das Geld später anonym an die Frau zurückschicken) nicht sicherer war, als sie zu bitten, dass sie ihm etwas lieh: ob das nicht überhaupt die Transgression war, die ihn vor dem Durchdrehen bewahren würde. Er schloss die Faust um die Scheine und rückte näher an die eigentlich recht hübsche Barfrau heran, doch die braunen rundköpfigen Männer, die sich auf dem Bildschirm abstrampelten, hielten ihren Blick gefangen, und so drehte er sich um und ging.
Während er, auf der Rückbank eines Taxis sitzend, an regennassen Geschäften vorüberfuhr, stopfte er sich Lakritze in den Mund. Wenn er schon Julia nicht zurückhaben konnte, wollte er wenigstens mit der Barfrau vögeln. Die eher wie neununddreißig aussah. Er wollte mit den Händen in ihr rauchiges Haar greifen. Er stellte sich vor, dass sie in einer sanierten Mietwohnung an der East Fifth lebte, vor dem Schlafengehen Bier trank und in verwaschenen, ärmellosen Tops und kurzen Turnhosen schlief, dass ihr Körper müde, ihr Nabel unprätentiös gepierct, ihre Muschi wie ein kampferprobter Baseball-Handschuh war und dass sie ihre Zehennägel mit dem schlichtesten, simpelsten Rot lackierte. Er wollte ihre Beine auf seinem Hintern spüren, wollte die Geschichte ihrer knapp vierzig Lebensjahre hören. Vielleicht sang sie ja wirklich auf Hochzeiten und Bar-Mizwas Rock'n'Roll.
Durchs Taxifenster las er Armes Würstchen statt Warme Würstchen. Er las Vampir-Unwesen statt Empire-Anwesen.
Er war halb in jemanden verliebt, den er nie wieder sehen durfte. Er hatte einer hart arbeitenden Frau, die College-Football guckte, neun Dollar gestohlen. Selbst wenn er später wieder hinging, ihr das Geld zurückgab und sich entschuldigte, blieb er der Mann, der sie, kaum dass sie ihm den Rücken kehrte, übers Ohr gehauen hatte. Sie war für immer aus seinem Leben verschwunden, nie konnte er ihr mit den Fingern durchs Haar fahren, und es war kein gutes Zeichen, dass dieser neuerliche Verlust ihn hyperventilieren ließ. Dass er keine Lakritze mehr hinunterbekam, weil der Schmerz zu groß war.
Statt Schule las er Schwule, statt Sprite las er Streit.
Im Schaufenster eines Optikers stand: UNTERSUCHE IHREN KOPF.
Schuld war das Geld, waren die Demütigungen, die einer aushalten musste, der keines hatte. Jeder Kinderwagen, den er sah, jedes Handy, jede Yankee-Mütze, jeder Jeep quälte ihn. Er war nicht habsüchtig, er war nicht neidisch. Aber ohne Geld war er kein Mann.
Wie er sich verändert hatte, seit er vom College geflogen war! Er wollte gar nicht mehr in einer anderen Welt leben; er wollte bloß das: in dieser Welt ein Mann mit Würde sein. Und vielleicht hatte Doug ja Recht, vielleicht waren die Brüste in seinem Drehbuch Nebensache. Dafür begriff er jetzt endlich — hatte es endlich geschnallt — , dass er den theoretischen Eingangsmonolog einfach streichen konnte, und zwar in Gänze. Zehn Minuten würde er brauchen, um diese Korrektur in Edens Büro auszuführen.