Auch Alfred ging gern auf Hochzeiten. Sie schienen ihm die einzigen Feste zu sein, die einen Sinn hatten. Von ihrem Zauber erfasst, erlaubte er sogar, dass Anschaffungen gemacht wurden (ein neues Kleid für Enid, ein neuer Anzug für ihn selbst, ein hochwertiges zehnteiliges Salatschüssel-Set aus Teakholz als Geschenk), gegen die er sonst, da er sie unvernünftig fand, sein Veto eingelegt hätte.
Enid hatte sich darauf gefreut, eines Tages, wenn Denise älter wäre und die Schule abgeschlossen hätte, selbst eine richtig vornehme Hochzeit mit anschließendem Empfang auszurichten (allerdings leider Gottes nicht in Deepmire, ach, denn die Lamberts, und damit waren sie nahezu die Ausnahme unter ihren besseren Freunden, konnten die astronomischen Deepmire- Preise nicht bezahlen), einen Empfang für Denise und einen groß gewachsenen, breitschultrigen jungen Mann, gerne skandinavischer Abstammung, dessen flachsblondes Haar den Makel des zu dunklen und zu lockigen Haars, das Denise von Enid geerbt hatte, ausgleichen, der ansonsten aber sehr gut mit ihr harmonieren würde. Und so brach es Enid beinah das Herz, als Denise sie eines Abends im Oktober, keine drei Wochen nachdem Chuck Meisner für seine Tochter Cindy den luxuriösesten Empfang gegeben hatte, zu dem in Deepmire je geladen worden war — die Männer ausnahmslos im Frack, ein Champagnerbrunnen, ein Hubschrauber auf dem achtzehnten Fairway des Golfplatzes und ein Blechbläser-Oktett, das Fanfaren spielte — , als Denise sie also anrief, um ihr mitzuteilen, dass sie und ihr Vorgesetzter nach Atlantic City gefahren seien und dort auf dem Standesamt geheiratet hätten. Enid, die einen sehr robusten Magen hatte (ihr wurde nie schlecht, nie), musste Alfred den Hörer reichen, sich im Badezimmer auf den Boden knien und ein paar Mal tief durchatmen.
Im Frühling davor hatten sie und Alfred in dem lärmigen Restaurant in Philadelphia, wo Denise sich die Hände ruinierte und ihre Jugend verschwendete, ein spätes Mittagessen zu sich genommen. Nach dem Essen, das recht gut, aber viel zu üppig gewesen war, hatte Denise ihnen unbedingt den «Küchenchef» vorstellen wollen, unter dem sie gelernt hatte und für den sie jetzt kochte und malochte. Dieser «Küchenchef», Emile Berger, war ein mürrischer, kleiner, mittelalter Jude aus Montreal, der offenbar glaubte, dass ein altes, weißes T-Shirt die angemessene Arbeitskleidung war (wie ein Koch, nicht wie ein Küchenchef, dachte Enid; keine Jacke, keine Mütze) und dass man sich das Rasieren am besten schenkte. Enid hätte Emile selbst dann unsympathisch gefunden und abblitzen lassen, wenn sie nicht daraus, wie Denise an seinen Lippen hing, geschlossen hätte, dass er sie in ungesundem Maße beeinflusste. «Die Krebspasteten waren ja wahnsinnig mächtig», hielt sie ihm in der Küche vor. «Ein Bissen und ich war satt.» Worauf Emile, anstatt sich zu entschuldigen und mit dem Finger auf sich selbst zu zeigen, wie jeder höfliche Mensch in St. Jude es getan hätte, erwiderte, ja, gewiss, wenn man eine «leichte» Krebspastete machen könne, die nach etwas schmecke, dann wäre das natürlich etwas Wunderbares, aber die Frage, Mrs. Lambert, sei doch, wie das gehen solle? Hm? Wie solle man Krebsfleisch «leicht» machen? Hungrig war Denise diesem Wortwechsel gefolgt, so als müsse sie mitschreiben oder alles im Kopf behalten. Draußen vor dem Restaurant ließ Enid es sich nicht nehmen, Denise, bevor sie zu ihrer Vierzehn-Stunden-Schicht zurückkehrte, kundzutun: «Das ist ja wirklich ein sehr kleiner Mann! Und er sieht so jüdisch aus!» Ihr Ton war weniger kontrolliert, als sie es sich gewünscht hätte, ein bisschen piepsiger und dünner, und an Denise' kühlem Blick und dem bitteren Zug um ihren Mund erkannte sie, dass sie ihre Tochter verletzt hatte. Andererseits, sie hatte doch bloß die Wahrheit gesagt. Und niemals, nicht für eine Sekunde, wäre sie auf die Idee gekommen, dass Denise — die, egal, wie unreif und romantisch sie sein mochte, und egal, wie töricht sie ihre Karriere plante, gerade erst dreiundzwanzig geworden war und ein hübsches Gesicht, eine hübsche Figur und das ganze Leben noch vor sich hatte — allen Ernstes mit einer Person wie Emile anbändeln könnte. Was eine junge Frau heutzutage, wo die Mädchen nicht mehr so früh heirateten, in den Jahren ihres Heranreifens mit ihren körperlichen Reizen anfangen sollte, das wusste Enid allerdings auch nicht so genau. Ganz allgemein betrachtet, hielt sie viel davon, wenn junge Leute sich zu dritt oder zu viert zusammenfanden, hielt, mit einem Wort, viel von Partys! Das Einzige, worauf sie mit aller Bestimmtheit beharrte, ein Grundsatz, dem sie umso leidenschaftlicher anhing, je mehr er von den Medien und der populären Unterhaltungsindustrie verspottet wurde, war, dass Sex vor der Ehe unmoralisch sei.
Und doch kam Enid an jenem Abend im Oktober, als sie auf dem Fußboden des Badezimmers kniete, der ketzerische Gedanke, dass es vielleicht klüger gewesen wäre, in ihren mütterlichen Moralpredigten weniger Betonung auf die Ehe zu legen. Sie fragte sich, ob die Tatsache, dass Denise so überstürzt gehandelt hatte, zu einem winzigen Teil womöglich sogar dem Wunsch entsprang, das moralisch Richtige zu tun und ihrer Mutter eine Freude zu bereiten. Wie die Zahnbürste in der Kloschüssel, wie die tote Grille im Salat, wie die Windel auf dem Abendbrottisch setzte Enid dieses Rätsel zu: ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, wenn Denise einfach drauflosgesündigt, wenn sie sich um des momentanen, egoistischen Vergnügens willen befleckt, wenn sie die Unschuld, die jeder anständige junge Mann von seiner zukünftigen Braut zu erwarten berechtigt war, verspielt hätte, anstatt Emile zu heiraten. Aber warum bloß hatte sich Denise überhaupt erst zu Emile hingezogen gefühlt! Es war das Gleiche, woran Enid sich auch bei Chip und sogar bei Gary stieß: Ihre Kinder störten die Harmonie. Sie wollten nicht, was sie und alle ihre Freunde und die Kinder ihrer Freunde wollten. Ihre Kinder wollten fundamental andere, beschämend andere Dinge.
Während sie nebenbei bemerkte, dass der Badezimmerteppich schmutziger war, als sie gedacht hatte, und noch vor den Feiertagen ausgewechselt werden musste, hörte Enid, wie Alfred Denise anbot, ihr zwei Flugtickets zu schicken. Mit welcher Ruhe Alfred die Nachricht aufzunehmen schien, dass seine einzige Tochter die wichtigste Entscheidung ihres Lebens getroffen hatte, ohne ihn vorher um Rat zu fragen, erstaunte sie. Doch als er aufgelegt hatte und sie das Badezimmer verließ und er einfach nur sagte, das Leben sei voller Überraschungen, fiel ihr auf, dass seine Hände so merkwürdig zitterten: nicht wie manchmal, wenn er Kaffee getrunken hatte, sondern kraftloser und heftiger zugleich. Und in der darauf folgenden Woche, in der Enid aus der demütigenden Lage, in die Denise sie gebracht hatte, das Beste machte, indem sie (1.) ihre besten Freundinnen anrief und möglichst freudig verkündete, Denise werde bald! einen sehr netten Kanadier heiraten, ja, aber sie wolle nur die engste Familie bei der Trauung dabeihaben, genau, und man könne ihren Ehemann bei einem schlichten, zwanglosen Empfang zur Weihnachtszeit kennen lernen (keine von Enids Freundinnen nahm ihr die Freude ab, die sie vortäuschte, doch sie rechneten ihr hoch an, dass sie ihren Kummer zu verbergen suchte; manche waren sogar rücksichtsvoll genug, nicht zu fragen, in welchem Geschäft Denise ihre Wunschliste ausgelegt habe), und indem sie (2.), ohne Denise' Erlaubnis, zweihundert Anzeigen drucken ließ, nicht nur, um die Hochzeit konventioneller erscheinen zu lassen, sondern auch, um ein wenig den Geschenkbaum zu schütteln, weil sie hoffte, dass sie und Alfred für die Dutzende und Aberdutzende von Teakholz-Salatschüsselsets, die sie in den vergangenen zwanzig Jahren verschenkt hatten, entlohnt würden: In dieser langen Woche also nahm Enid Alfreds merkwürdiges neues Zittern unablässig wahr, und als er schließlich einwilligte, seinen Hausarzt aufzusuchen, und von Dr. Hedgpeth, an den dieser ihn überwies, mit der Diagnose Parkinson nach Hause geschickt wurde, verband sich Alfreds Krankheit in irgendeinem verborgenen Winkel ihres Gehirns mit Denise' Anruf, weshalb sie insgeheim ihrer Tochter die Schuld daran gab, dass ihre eigene Lebensqualität sich seither im freien Fall befand, auch wenn Dr. Hedgpeth betont hatte, Parkinson sei somatisch bedingt und schreite nur langsam voran. Je näher die Feiertage rückten und je genauer sie das Informationsmaterial, das Dr. Hedgpeth ihr und Alfred mitgegeben hatte, studierte, Broschüren und Faltblätter, deren düstere Farbschemata, trostlose Strichzeichnungen und Furcht erregende medizinische Fotos eine ebenso düstere, trostlose und Furcht erregende Zukunft prophezeiten, umso stärker war Enid überzeugt, dass Denise und Emile ihr Leben zerstört hatten. Aber sie hatte strikte Anweisung von Alfred, Emile das Gefühl zu geben, dass er in ihrer Familie willkommen sei. Also malte sie sich am Tag des Empfangs für die Frischvermählten ein Lächeln ins Gesicht und nahm, wieder und wieder, die aufrichtigen Glückwünsche alter Familienfreunde entgegen, die Denise ins Herz geschlossen hatten und sie goldig fanden (schließlich hatte Enid ihr damals, als sie sie aufzog, ja auch oft genug erklärt, dass man stets liebenswürdig zu sein habe, wenn man älteren Menschen begegne) (obwohl, was war ihre Heirat anderes als ein Beispiel exzessiver Liebenswürdigkeit gegenüber einem Älteren?), wo Enid doch Beileidsbekundungen erheblich vorgezogen hätte. Die Anstrengungen, die sie machte, um eine gute Verliererin und Stimmungsmacherin zu sein, um sich Alfred zu fügen und ihren mittelalten Schwiegersohn herzlich willkommen zu heißen und kein einziges Wort über seine Religion zu sagen, verstärkten nur die Scham und Wut, die sie empfand, als Denise und Emile sich fünf Jahre später scheiden ließen und sie all ihren Freundinnen auch diese Nachricht überbringen musste. Nachdem sie die Ehe mit so viel Bedeutung aufgeladen, sich so große Mühe gegeben hatte, sie zu akzeptieren, war das Mindeste, was Denise ihrer Meinung nach tun konnte, dass sie verheiratet blieb.