«Ich weiß nicht, warum du dich darüber aufregst, wenn sie doch gar nichts mit dir zu tun hat.»
«Was mich aufregt, ist, dass du offenbar glaubst, sie hätte irgendwas mit mir zu tun. Vermutest du denn, ich wäre mit einem verheirateten Mann liiert?»
Enid vermutete das nicht nur, sondern war auf einmal so wütend darüber, ja hatte vor lauter Missbilligung einen solchen Kloß im Hals, dass sie kaum atmen konnte.
«Endlich, endlich kann ich mal ein paar von diesen Zeitschriften wegtun», sagte sie und zerriss ein paar Seiten des Hochglanzpapiers.
«Mutter?»
«Besser, man redet nicht darüber. Wie in der Navy — nicht fragen, nicht weitersagen.»
Denise stand, das Geschirrtuch in der Hand zusammengeknüllt, mit verschränkten Armen in der Küchentür. «Wie kommst du auf die Idee, ich wäre mit einem verheirateten Mann liiert?»
Enid zerriss noch eine Seite.
«Hat Gary was in der Richtung gesagt?»
Enid gab sich alle Mühe, den Kopf zu schütteln. Denise wäre außer sich vor Wut, wenn sie herausbekäme, dass Gary etwas so Vertrauliches ausgeplaudert hatte, und obwohl Enid einen Großteil ihres Leben damit zubrachte, aus diesem oder jenem Grund wütend auf Gary zu sein, bildete sie sich viel darauf ein, dass sie Geheimnisse für sich behalten konnte, und wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen. Es stimmte, dass sie seit Monaten über Denise nachgrübelte und inzwischen beträchtliche Vorräte an Ärger angesammelt hatte. Während sie bügelte oder die Efeubeete harkte oder nachts wach in ihrem Bett lag, hatte sie wieder und wieder die Urteile über Denise' unmoralischen Lebenswandel einstudiert — Das ist ein sagenhaft selbstsüchtiges Verhalten, das ich niemals verstehen und niemals verzeihen werde und ich schäme mich, jemandes Mutter zu sein, der so lebt und in einer solchen Situation gehört meine Sympathie zu eintausend Prozent der Ehefrau, zu eintausend Prozent, Denise — , Urteile, die sie so liebend gern verkündet hätte. Und jetzt war die Gelegenheit, es zu tun. Falls Denise die Vorwürfe jedoch abstritt, wäre Enids ganze Wut verpufft, und all die Mühe, mit der sie an ihren Urteilen gefeilt und sie einstudiert hatte, wäre vergebens. Sollte sie andererseits alles zugeben, dann wäre Enid vielleicht trotzdem besser beraten, die angestauten Urteile hinunterzuschlucken, statt einen Streit vom Zaun zu brechen. Enid brauchte Denise als Verbündete an der Weihnachtsfront, außerdem wollte sie nicht zu einer Luxuskreuzfahrt aufbrechen, wenn einer ihrer Söhne auf unerklärliche Weise verschwunden war, der andere ihr grollte, weil sie sein Vertrauen missbraucht hatte, und das Verhalten ihrer Tochter womöglich ihren schlimmsten Befürchtungen entsprach.
Mit einer gewaltigen, demütigenden Kraftanstrengung schüttelte sie daher den Kopf. «Nein, nein. Gary hat kein Wort gesagt.»
Denise kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. «Kein Wort worüber.»
«Denise», sagte Alfred. «Lass sie in Frieden.»
Und Denise, die sich von Enid niemals etwas sagen ließ, machte auf der Stelle kehrt und ging zurück in die Küche.
Enids Blick fiel auf einen Coupon, der bei jedem Kauf von Thomas' English Muffins einen Rabatt von sechzig Cent auf Margarine der Sorte «Und das soll keine Butter sein!» versprach. Ihre Schere zerschnitt das Papier und mit ihm die Stille, die eingetreten war.
«Wenn ich auf dieser Kreuzfahrt eins tue», sagte sie, «dann das: Ich werde diese ganzen Zeitschriften durchsehen.»
«Kein Zeichen von Chip», sagte Alfred.
Denise stellte drei Nachtischteller mit Tortenstücken auf den Esstisch. «Ich fürchte, wir werden Chip heute nicht mehr zu sehen kriegen.»
«Das ist sehr merkwürdig», sagte Enid. «Ich verstehe nicht, warum er nicht wenigstens anruft.» «Ich hab schon Schlimmeres ausgehalten», sagte Alfred.
«Dad, hier ist der Nachtisch. Mein Chefkonditor hat eine Pfirsichtarte gebacken. Möchtest du sie am Tisch essen?»
«Oh, das ist ein viel zu großes Stück für mich», sagte Enid.
«Dad?»
Alfred antwortete nicht. Sein Mund hatte wieder diesen schlaffen, säuerlichen Zug, der Enid jedes Mal befürchten ließ, dass etwas Schreckliches bevorstand. Er wandte sich den dunkler werdenden, regennassen Fenstern zu und starrte sie, mit tief herabhängendem Kopf, teilnahmslos an.
«Dad?»
«Al? Es gibt jetzt Nachtisch.»
Irgendetwas schien sich in ihm zu lösen. Den Blick unverwandt aufs Fenster gerichtet, hob er mit zaghafter Freude den Kopf, als hätte er draußen jemanden erkannt, jemanden, den er gern hatte.
«Al, was ist los?»
«Dad?»
«Da sind Kinder», sagte er und richtete sich ein wenig auf. «Seht ihr sie?» Er hob einen zitternden Zeigefinger. «Da.» Sein Finger bewegte sich seitwärts, folgte den Kindern, die Alfred sah. «Und da. Und da.»
Er wandte sich zu Enid und Denise um, als erwarte er, dass diese Nachricht sie überglücklich machen werde, aber Enid war alles andere als überglücklich. Sie stand im Begriff, eine sehr vornehme Herbstfarben-Kreuzfahrt anzutreten, auf der Alfred, und das war von größtem Belang, ein Irrtum wie dieser auf gar keinen Fall unterlaufen durfte.
«Al, was du da siehst, sind Sonnenblumen», sagte sie, halb ärgerlich, halb besänftigend. «Sie spiegeln sich im Fenster.»
«So was!» Schroff schüttelte er den Kopf. «Ich dachte, ich hätte Kinder gesehen.»
«Nein, Sonnenblumen», sagte Enid. «Du hast Sonnenblumen gesehen.»
Nachdem seine Partei abgewählt worden sei und die Währungskrise in Russland der litauischen Wirtschaft den Rest gegeben habe, erzählte Gitanas, habe er seine Tage allein in den alten Büros der VIPPPAKJRIINPB17 verbracht und seine freien Stunden dazu genutzt, eine Homepage einzurichten, deren Domain-Namen, Lithuania.com, er von einem ostpreußischen Spekulanten für eine Wagenladung Vervielfältigungsgeräte, Typenraddrucker, C64er-Computer und andere Büroausstattung aus der Gorbatschow-Ära erstanden habe — die letzten physischen Überreste der Partei. Um die Notlage kleiner Schuldnerländer öffentlich zu machen, habe er dann eine satirische Seite mit dem Slogan: PROFIT DURCH DEMOKRATIE: KAUFEN SIE EIN STÜCK EUROPÄISCHE GESCHICHTE entworfen und alle möglichen Links zu amerikanischen Newsgroups und Chatrooms für Investoren hergestellt. Wer die Homepage besuchte, wurde aufgefordert, der ehemaligen VIPPPAKJRIINPB17 Bargeld zu schicken — sie sei «eine der ehrwürdigsten politischen Parteien Litauens», sei «innerhalb der letzten sieben Jahre für drei volle Jahre» der «Eckpfeiler» der nationalen Regierungskoalition und der führende Stimmenfänger bei den allgemeinen Wahlen im April 1993 gewesen und mittlerweile eine «westlich orientierte, unternehmerfreundliche Partei», die sich als «Parteigesellschaft Freier Markt» neu organisiert habe. Gitanas' Homepage versprach, ausländische Investoren würden, sobald die Parteigesellschaft Freier Markt genügend Stimmen zusammengekauft habe, um eine nationale Wahl zu gewinnen, nicht nur mit Aktienanteilen der Litauen-AG (einem «profitorientierten Nationalstaat»), sondern je nach Investitionsvolumen auch mit einem personalisierten Andenken an ihren «heldenhaften Beitrag» zur «Befreiung des Marktes» in diesem Land belohnt werden. Ein amerikanischer Investor zum Beispiel, der $ 100 schicke, könne eine Straße in Vilnius («von nicht unter zweihundert Metern Länge») nach sich benennen lassen; für $ 5.000 werde die Parteigesellschaft Freier Markt ein Porträt des Investors («Mindestgröße 60 x 80 cm, vergoldeter Schmuckrahmen inklusive») in der Galerie der Nationalhelden im historischen lapeliai-Haus aufhängen; für $ 25.000 werde ihm das ständige Eigentumsrecht an einer eponymen Stadt «von nicht weniger als 5000 Seelen» eingeräumt sowie eine «moderne, hygienische Form des droit du seigneur», die «dem allergrößten Teil» der von der Dritten Internationalen Menschenrechtskonferenz beschlossenen Richtlinien Genüge tue.
«Das war ein gemeiner kleiner Scherz», sagte Gitanas, der sich ganz in eine Ecke ihres Taxis gequetscht hatte. «Aber wer hat gelacht? Niemand. Die Leute haben bloß Geld geschickt. Kaum hatte ich die Adresse angegeben, gingen die Barschecks ein. Und Hunderte von E-Mail-Anfragen. Was produziert die Litauen-AG? Wer sind die Verantwortlichen in der Parteigesellschaft Freier Markt, und können sie einschlägige Erfahrungen als Manager vorweisen? Sind bereits Gewinne zu verzeichnen? Kann der Investor eine Straße oder ein Dorf in Litauen auch nach seinen Kindern oder der liebsten Pokemonfigur seiner Kinder benennen lassen? Alle wollen sie Information. Alle wollen sie Broschüren. Und Prospekte! Und Aktienzertifikate! Und Brokerinformationen! Und ob wir an dieser und jener Börse gelistet sind? Und so weiter und so fort. Manche wollen sogar anreisen! Und niemand lacht.»