Aber Enid hatte schon wieder etwas gesagt. Der Ohrenarzt hatte behauptet, er sei leicht schwerhörig. Alfred runzelte die Stirn, weil er sie nicht verstanden hatte.
«Heute ist Donnerstag», sagte sie, lauter. «Wir fahren doch erst Samstag.»
«Samstag!», echote er.
Da schimpfte sie mit ihm, und für eine Weile zogen sich die Vögel der Dämmerung zurück, aber draußen hatte der Wind die Sonne ausgeblasen, und es wurde sehr kalt
DER VERSAGER
UNSICHER KAMEN SIE den langen Gang herunter, Enid ihre lädierte Hüfte schonend, Alfred mit schlackerigen Handgelenken durch die Luft paddelnd, während seine Füße schlecht kontrolliert auf den Flughafenteppich klatschten, beide mit Nordic-Pleasure-Lines-Taschen über der Schulter und ganz auf den Boden konzentriert, um die gefährliche Strecke jeweils drei Schritt im Voraus auszumessen. Für jeden, dem auffiel, wie sie die Augen von den dunkelhaarigen, vorbeihastenden New Yorkern abwandten, für jeden, der einen Blick auf Alfreds Strohhut warf, einen Hut so hoch wie Iowa-Mais am herbstlichen Labor Day, oder auf den gelben Wollstoff der Hose, die sich über Enids schiefe Hüfte spannte, war offensichtlich, dass sie aus dem Mittelwesten stammten und Angst hatten. Für Chip Lambert jedoch, der hinter der Sicherheitsschranke auf sie wartete, waren sie Killer.
Chip hatte die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt und hob eine Hand, um an dem schmiedeeisernen Niet in seinem Ohr zu ziehen. Er hatte Sorge, dass er sich den Niet aus dem Ohrläppchen reißen könnte — dass selbst der größte Schmerz, den die Nerven in seinem Ohr erzeugen konnten, geringer wäre als der, den er jetzt brauchte, um Haltung zu bewahren. Von seinem Platz bei den Metalldetektoren aus beobachtete er, wie ein himmelblauhaariges Mädchen seine Eltern auf dem Gang überholte, ein himmelblauhaariges Mädchen im College-Alter: eine äußerst begehrenswerte Fremde mit gepiercten Lippen und Brauen. Wenn er nur eine Sekunde lang mit diesem Mädchen Sex haben könnte, dann, das wurde ihm schlagartig klar, wäre er imstande, seinen Eltern selbstbewusst gegenüberzutreten, und wenn er im Minutentakt weiter mit ihr Sex haben könnte, solange seine Eltern in der Stadt waren, dann wäre er sogar in der Lage, ihren gesamten Besuch zu überstehen. Chip war ein großer, durchtrainierter Mann mit Krähenfüßen und spärlichem, buttergelbem Haar; falls das Mädchen ihn bemerkt hatte, mochte sie gedacht haben, dass er für das Leder, das er trug, ein bisschen zu alt war. Als sie an ihm vorbeieilte, zog er heftiger an seinem Niet, um den Schmerz darüber, dass sie für immer aus seinem Leben verschwand, zu lindern und seine Aufmerksamkeit auf seinen Vater zu lenken, dessen Gesicht aufleuchtete, als er unter so vielen Fremden einen Sohn entdeckte. Blitzartig vorschnellend wie ein in tiefem Wasser zappelnder Mann, stürzte sich Alfred auf Chip und packte dessen Hand samt Gelenk, als wären sie ein Seil, das man ihm zugeworfen hatte. «Na!», sagte er. «Na!»
Hinter ihm tauchte hinkend Enid auf. «Chip», rief sie, «was hast du mit deinen Ohren gemacht!»
«Dad, Mom», murmelte Chip durch die Zähne, in der Hoffnung, dass das himmelblauhaarige Mädchen schon außer Hörweite war. «Schön, euch zu sehen.»
Er hatte Zeit für einen subversiven Gedanken über die Nordic-Pleasurelines-Taschen seiner Eltern — entweder die Mitarbeiter von Nordic-Pleasurelines verschickten solche Taschen an jeden, der eine Kreuzfahrt bei ihnen buchte, als zynisches Mittel einer wohlfeil wandelnden Reklame, als praktisches Mittel der Kennzeichnung von Kreuzfahrtteilnehmern, damit sie in den Häfen leichter zu handhaben waren, oder als günstiges Mittel zur Bildung von Teamgeist, oder aber Enid und Alfred hatten die Taschen von einer früheren Nordic-Pleasurelines-Kreuzfahrt extra aufbewahrt und aus einem irregeleiteten Gefühl der Loyalität beschlossen, sie bei ihrer bevorstehenden Kreuzfahrt abermals zu tragen; so oder so war Chip entsetzt, wie bereitwillig seine Eltern sich zu Vektoren der Firmenwerbung machten — , bevor er die Taschen selber schulterte und es auf sich nahm, den La Guardia Airport und New York City und sein Leben und seine Kleidung und seinen Körper mit den enttäuschten Augen seiner Eltern zu betrachten.
Als wäre er zum ersten Mal hier, bemerkte er das schmutzige Linoleum, die Fahrer, die wie Attentäter aussahen und Schilder mit fremder Leute Namen hochhielten, das Gewirr von Kabeln, die aus einem Loch in der Decke baumelten. Deutlich hörte er das Wort motherfucker. Jenseits der großen Fenster auf der Gepäckebene schoben zwei Männer aus Bangladesch ein fahruntüchtiges Taxi durch Regen und wütendes Gehupe.
«Wir müssen um vier am Pier sein», sagte Enid zu Chip. «Und ich glaube, Dad hat gehofft, mal deinen Schreibtisch beim Wall Street Journal zu sehen.» Sie hob die Stimme. «Al? Al?»
Obwohl im Nacken inzwischen gebeugt, war Alfred immer noch eine imposante Erscheinung. Sein Haar war weiß und dicht und glänzend wie das Fell eines Eisbären, und die kräftigen langen Muskeln seiner Schultern, an die Chip sich nur allzu gut erinnerte, so oft, wie er sie hatte spielen sehen, wenn Alfred ein Kind, meistens ihn selber, versohlte, füllten den grauen Tweed seines Sportsakkos ganz und gar aus.
«Al, hast du nicht gesagt, du würdest gern sehen, wo Chip arbeitet?», rief Enid.
Alfred schüttelte den Kopf. «Keine Zeit.»
Das kreisende Kofferkarussell beförderte nichts.
«Hast du deine Tablette genommen?», fragte Enid.
«Ja», sagte Alfred. Er schloss die Augen und wiederholte langsam: «Ich habe meine Tablette genommen. Ich habe meine Tablette genommen. Ich habe meine Tablette genommen.»
«Doktor Hedgpeth hat ihm nämlich was Neues verschrieben», erklärte Enid Chip, der ziemlich sicher war, dass sein Vater in Wahrheit keinerlei Interesse geäußert hatte, sein Büro zu sehen. Und da Chip nichts mit dem Wall Street Journal zu schaffen hatte — das Blatt, für das er unbezahlte Beiträge schrieb, hieß Warren Street Journaclass="underline" Monatsschrift der Transgressiven Künste; außerdem war er erst kürzlich mit der Arbeit an einem Drehbuch fertig geworden und hatte einen Teilzeitjob als Korrektor bei der Anwaltskanzlei Bragg Knuter & Speigh, seit er vor fast zwei Jahren seine Stelle als Assistenzprofessor im Fachbereich Text-Artefakte am D — College in Connecticut verloren hatte, Resultat eines Vergehens, das mit einer jungen Studentin zu tun hatte und gerade noch so eben keinen juristischen Tatbestand erfüllte, im Übrigen jedoch, obwohl seine Eltern nie davon erfuhren, die Parade seiner Großtaten unterbrach, mit denen seine Mutter zu Hause in St. Jude prahlen konnte; er hatte seinen Eltern erzählt, er habe aufgehört zu lehren, um eine Karriere als Schriftsteller zu verfolgen, und als seine Mutter vor Kurzem unbedingt Einzelheiten hören wollte, hatte er das Warren Street Journal erwähnt, dessen Namen sie falsch verstand und sofort an ihre Freundinnen Esther Root und Bea Meisner und Mary Beth Schumpert ausposaunte, und obwohl Chip bei seinen monatlichen Anrufen zu Hause zahlreiche Gelegenheiten gehabt hätte, sie aufzuklären, hatte er das Missverständnis im Gegenteil noch genährt; und spätestens hier wurden die Dinge einigermaßen komplex, nicht nur weil man das Wall Street Journal in St. Jude kaufen konnte und seine Mutter nie davon gesprochen hatte, dass sie seine Beiträge gesucht und nicht gefunden habe (ein Teil von ihr mithin sehr genau wusste, dass er nicht für diese Zeitung schrieb), sondern auch weil der Autor von Artikeln wie «Kreativer Ehebruch» und «Schmutzigen Motels zu Ehren» daran mitwirkte, in seiner Mutter ebenjene Art von Illusion am Leben zu erhalten, die das Warren Street Journal zerstören wollte, und er mit seinen neununddreißig Jahren seinen Eltern die Schuld daran gab, was aus ihm geworden war — aus all diesen Gründen also war er froh, als seine Mutter das Thema fallen ließ.