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Chip klopfte mit einem Fingerknöchel an die Scheibe und taxierte die Frauen auf der Sixth Avenue. Der Regen ließ nach, Schirme wurden zusammengeklappt. «Gehen die Erträge an Sie oder an die Partei?»

«Tja, also, was das angeht, wandelt sich meine Einstellung gerade», sagte Gitanas.

Aus seiner Aktentasche förderte er eine Flasche Aquavit zutage, die er zur Besiegelung ihrer Übereinkunft schon in Edens Büro hatte kreisen lassen. Er wälzte sich zur Seite und reichte sie Chip, der einen kräftigen Schluck nahm und sie zurückgab.

«Sie waren mal Englischlehrer», sagte Gitanas.

«Am College, ja.»

«Und wo ist Ihre Familie her? Aus Skandinavien?»

«Mein Vater stammt aus Skandinavien», sagte Chip. «Meine Mutter ist irgend so ein Osteuropa-Mischling.»

«Die Leute in Vilnius werden Sie anschauen und denken, Sie wären einer von uns.»

Chip wollte möglichst zu Hause ankommen, bevor seine Eltern aufgebrochen waren. Jetzt, da er Geld in der Tasche hatte, dreißig Hunderter, kümmerte es ihn weit weniger, was seine Eltern von ihm dachten. Ja, auf einmal meinte er sich zu erinnern, dass er seinen Vater ein paar Stunden zuvor zitternd und flehend in einer Tür hatte stehen sehen. Während er jetzt den Aquavit trank und Frauen auf dem Bürgersteig taxierte, konnte er sich kaum mehr erklären, warum der alte Mann für ihn je ein solcher Killer gewesen war.

Gewiss, in Alfreds Augen war das einzige Problem an der Todesstrafe, dass sie nicht oft genug angewendet wurde, und wenn sie früher, in Chips Kindheit, gemeinsam am Abendbrottisch gesessen hatten und Alfred auf Verbrecher zu sprechen gekommen war, die seiner Meinung nach vergast oder auf den elektrischen Stuhl gehörten, so hatte es sich in den meisten Fällen um Schwarze aus den Slums im Norden von St. Jude gehandelt. («Ach, Al», pflegte Enid dann zu sagen, denn das Abendessen war doch die «Familienmahlzeit», und sie begriff nicht, warum man dabei über Gaskammern und Gemetzel auf den Straßen reden musste.) Und eines Sonntagmorgens hatte Alfred, jenen Weißen ähnlich, die in gemischten Wohngebieten wohnten und genau registrierten, wie viele Häuser sie wieder an «die Schwarzen» verloren hatten, am Fenster gestanden, um die Eichhörnchen zu zählen und den Schaden zu taxieren, den sie seinen Eichen und seinem Zoysia-Gras zufügten, und daraufhin ein Genozid-Experiment durchgeführt. Verärgert, dass es den Eichhörnchen in seinem nicht eben großen Vorgarten an der nötigen Disziplin mangelte, ihre Fortpflanzung einzustellen oder zumindest hinter sich aufzuräumen, war er in den Keller gegangen und mit einer Rattenfalle wieder heraufgekommen, angesichts deren Enid den Kopf schüttelte und kleine missbilligende Laute von sich gab. «Neunzehn sind es!», sagte Alfred. «Neunzehn Stück!» Gegen die Disziplin einer so exakten, wissenschaftlich ermittelten Zahl war jeder Appell an Alfreds Gefühle machtlos. Als Köder legte er ein Stück desselben Vollkornbrots in die Falle, von dem Chip eine Scheibe, getoastet, zum Frühstück gegessen hatte. Dann gingen alle fünf Lamberts in die Kirche, und zwischen dem Gloria Patri und der Doxologie schnappte sich ein junges männliches Eichhörnchen, nach Art aller wirtschaftlich Depravierten zu jedem Risiko bereit, das Brot und zertrümmerte sich den Schädel. Als die Familie nach Hause kam, taten sich bereits grüne Fliegen an der Masse aus Blut, Gehirn und zerkautem Vollkornbrot gütlich, das durch die zerquetschten Kiefer des jungen Eichhörnchens herausgespritzt war. Alfreds eigene Mund- und Kieferpartie hingegen wirkte so wie zugenäht, so wie immer, wenn etwas, das Disziplin erforderte — ein Kind verprügeln, Kohlrüben essen — , ihm mächtig widerstrebte. (Wobei er selbst sich dieses Widerstrebens, das er für Disziplin hielt, kein bisschen bewusst war.) Er holte eine Schaufel aus der Garage und schippte die Falle samt Eichhörnchenkadaver in die Papiertüte, die Enid am Tag davor zur Hälfte mit gezupftem Fingergras gefüllt hatte. Chip verfolgte all dies aus ungefähr zwanzig Schritt Entfernung und sah so, wie Alfred, als er von der Garage aus den Keller betrat, kurz schwankte, weil seine Beine ein wenig nachgaben, und seitlich gegen die Waschmaschine stieß, bevor er an der Tischtennisplatte vorbeirannte (seinen Vater rennen zu sehen hatte Chip immer erschreckt, er schien zu alt dafür, zu diszipliniert) und im Kellerbadezimmer verschwand; und von Stund an konnten die Eichhörnchen tun und lassen, was sie wollten.

Das Taxi näherte sich University Place. Chip überlegte, ob er zur Cedar Tavern fahren und der Kellnerin das Geld zurückgeben, ja ihr vielleicht einen glatten Hunderter in die Hand drücken sollte, um alles wieder gutzumachen, sich vielleicht auch gleich ihren Namen und ihre Adresse zu notieren, damit er ihr aus Litauen schreiben konnte. Er wollte sich schon vorbeugen und dem Fahrer Bescheid sagen, als ein radikaler neuer Gedanke ihn innehalten ließ: Ich habe neun Dollar gestohlen, jawohl, das habe ich getan, so einer bin ich, Pech für sie.

Er lehnte sich zurück und streckte die Hand nach der Flasche aus.

Vor Chips Haus angekommen, wollte der Fahrer den Hunderter, den Chip ihm reichte, nicht akzeptieren — zu groß, zu groß. Gitanas kramte kleineres Geld aus seiner roten Motocross-Jacke.

«Wie wär's, wenn wir uns in Ihrem Hotel treffen?», sagte Chip.

Gitanas schmunzelte. «Sie machen Witze, oder? Ich meine, ich vertraue Ihnen ja durchaus. Aber vielleicht warte ich doch lieber hier unten. Packen Sie Ihre Sachen, lassen Sie sich Zeit. Nehmen Sie einen warmen Mantel und eine Mütze mit. Anzüge und Schlipse. Denken Sie als Finanzmensch.»

Der Portier Zoroaster war nirgends zu sehen. Chip musste seinen Schlüssel benutzen. Im Fahrstuhl atmete er tief durch, um seine Aufregung zu bezwingen. Es war nicht Angst, was er empfand, sondern Großherzigkeit: Er war bereit, seinen Vater in die Arme zu schließen.

Aber die Wohnung war leer. Seine Familie musste Minuten zuvor gegangen sein. Körperwärme hing in der Luft, ein Hauch von Enids White-Shoulders-Parfüm und irgendetwas Badezimmriges, Alte-Leutiges. Die Küche war sauberer, als Chip sie je gesehen hatte. Im Wohnzimmer fiel das Ergebnis all seiner Schrubberei und Aufräumerei jetzt wesentlich deutlicher ins Auge als am Vorabend. Und seine Bücherregale waren kahl. Und Julia hatte ihre Shampoos und ihren Föhn aus dem Badezimmer geholt. Und er war betrunkener, als ihm bewusst gewesen war. Und niemand hatte ihm eine Nachricht hinterlassen. Der Esstisch war bis auf ein Stück Tarte und eine Vase mit Sonnenblumen abgeräumt. Er musste seine Sachen packen, aber für einen Moment schien alles in ihm und um ihn herum so fremd, dass er nur dastehen und schauen konnte. Die Blätter der Sonnenblumen hatten braune Stellen und einen Saum blässlicher Altersflecken; die Köpfe waren fleischig und prachtvoll, schwer wie Brownies, dick wie Handteller. Im Gesicht einer dieser Sonnenblumen aus Kansas saß ein etwas helleres Knöpfchen inmitten einer etwas dunkleren Areole. Die Natur, dachte Chip, hätte kaum ein einladenderes Bett für ein geflügeltes kleines Tier schaffen können. Er berührte den braunen Samt, und ein ekstatisches Glücksgefühl spülte über ihn hinweg.

Das Taxi mit den drei Lamberts hielt vor einem Pier in Midtown. Ein weißer Wolkenkratzer von einem Kreuzfahrtschiff, die Gunnar Myrdal, versperrte die Sicht auf den Fluss, New Jersey und den halben Himmel. Eine Menschenmenge, vorwiegend alte Leute, drängte sich am Gate; in dem langen, hellen Gang dahinter verlief sie sich wieder. Ihre zielstrebige Wanderung hatte etwas Unterweltliches, die Freundlichkeit und weiße Tracht der Nordic-Pleasurelines-Crew etwas Gespenstisches, und die Regenwolken verzogen sich zu spät, um den Tag noch retten zu können — diese Totenstille.