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Heerscharen und Zwielicht am Styx.

Denise bezahlte den Taxifahrer und übergab Trägern das Gepäck.

«Tja, also, was hast du jetzt vor?», fragte Enid.

«Ich muss zurück nach Philly. Arbeiten.»

«Du siehst goldig aus», sagte Enid plötzlich. «Ich finde, diese Haarlänge steht dir gut.»

Alfred ergriff Denise' Hände und dankte ihr.

«Wenn es nur ein besserer Tag für Chip gewesen wäre», sagte Denise.

«Sprich mit Gary über Weihnachten», sagte Enid. «Und versuch, dir eine ganze Woche freizunehmen.»

Denise schob einen Lederärmel hoch und schaute auf die Uhr. «Ich komme für fünf Tage. Dass Gary mitmacht, glaube ich allerdings nicht. Und wer weiß, was mit Chip ist.»

«Denise», sagte Alfred, ungeduldig, als rede sie Unfug, «bitte sprich mit Gary.»

«Okay, mach ich. Mach ich.»

Alfreds Hände hüpften in der Luft. «Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt! Du und deine Mutter, ihr müsst euch vertragen. Und du und Gary auch.»

«Al, du hast noch viel — »

«Wir müssen uns alle vertragen!»

Denise hatte nicht nah am Wasser gebaut, aber jetzt zog sich ihr Gesicht zusammen. «In Ordnung, Dad», sagte sie. «Ich rede mit ihm.»

«Deine Mutter möchte Weihnachten in St. Jude feiern.»

«Ich rede mit ihm. Versprochen.»

«Gut.» Er drehte sich abrupt um. «Genug davon.»

Sein schwarzer Regenmantel flatterte und peitschte im Wind, aber Enid gelang es trotzdem zu hoffen, dass das Wetter für eine Kreuzfahrt perfekt, dass die See ruhig sein würde.

In trockenen Sachen, mit Sporttasche, Kleidersack und Zigaretten — milden, tödlichen Murattis, fünf Dollar die Schachtel — , fuhr Chip mit Gitanas Misevicius zum Kennedy Airport und stieg in den Flieger nach Helsinki, für den Gitanas, in Missachtung ihres mündlichen Vertrages, Holzklasse statt Business-Class gebucht hatte. «Trinken wir heute Abend, schlafen können wir morgen früh», sagte er.

Sie saßen nebeneinander, Fenster und Gang. Als Chip sich setzte, musste er daran denken, wie Julia Gitanas abserviert hatte. Er stellte sich vor, wie sie eilends das Flugzeug verlassen hatte, durch die Halle gesprintet war und sich auf den Rücksitz eines guten alten Yellow Cab hatte plumpsen lassen. Heimweh fiel ihn an — Furcht vor dem Anderen, Liebe zum Vertrauten — , doch im Unterschied zu Julia hatte er keine Lust, sich aus dem Staub zu machen. Kaum war er angeschnallt, übermannte ihn auch schon der Schlaf. Beim Start wachte er kurz auf und schlief weiter, bis die gesamte Schar der Fluggäste sich, wie auf Kommando, Zigaretten anzündete.

Gitanas nahm einen Laptop aus seiner Hülle und drückte die Starttaste. «Also, Julia», sagte er.

Einen irritierenden, schlafumwölkten Augenblick dachte Chip, Gitanas meine ihn.

«Meine Frau?», sagte Gitanas.

«Ach. Klar.»

«Tja, wissen Sie, sie nimmt Antidepressiva. Das war Edens Idee, glaube ich. Eden hat im Moment wohl gewissermaßen das Kommando für sie übernommen. Sie haben ja gemerkt, dass sie mich heute nicht in ihrem Büro haben wollte. Nicht mal in der Stadt! Ich bin den beiden lästig. Na schön, Julia hat also irgendwann angefangen, dieses Medikament zu nehmen, und eines Morgens wachte sie auf und wollte nichts mehr von Männern mit Zigaretten-Brandwunden wissen. Das hat sie gesagt. Schluss mit Männern, die Zigaretten-Brandwunden haben. Höchste Zeit, das Ruder rumzureißen. Keine Männer mit Brandwunden mehr.» Gitanas schob eine CD-ROM in den Laptop. «Aber sie will die Wohnung haben. Wenigstens will der Scheidungsanwalt, dass sie das will. Der Scheidungsanwalt, den Eden bezahlt. Irgendwer hat die Schlösser ausgewechselt, ich musste dem Hausmeister Geld geben, damit er mich reinließ.»

Chip machte mit seiner linken Hand eine Faust. «Zigaretten-Brandwunden?»

«Ja. O ja, ich hab ein paar davon.» Gitanas reckte den Hals, um zu sehen, ob jemand zuhörte, aber alle Passagiere in ihrer Nähe, außer zwei Kindern mit fest geschlossenen Augen, waren ins Rauchen vertieft. «Sowjetisches Militärgefängnis», sagte er. «Angenehmer Aufenthalt dort. Ich kann Ihnen ja mal mein Souvenir zeigen.» Er schälte sich die rote Lederjacke vom Arm und krempelte den Ärmel seines gelben T-Shirts hoch. Ein pusteliges, komplexes Sternbild aus vernarbtem Gewebe erstreckte sich von seiner Achselhöhle über die Innenseite des Oberarms bis hinunter zum Ellenbogen. «Das war mein 1990», sagte er. «Acht Monate in einer Kaserne der Roten Armee im souveränen Staat Litauen.»

«Sie waren ein Dissident», sagte Chip.

«Ja! Ja! Dissident!» Er steckte seinen Arm wieder in den Ärmel. «Es war entsetzlich, toll. Sehr anstrengend, aber das hab ich kaum gemerkt. Die Erschöpfung kam erst später.»

Wenn Chip an 1990 zurückdachte, erinnerte er sich an Tudordramen, an nicht enden wollende, fruchtlose Streitereien mit Tori Timmelman, an die heimliche, ungesunde Beschäftigung mit gewissen von Toris Texten, die die entmenschlichenden Aspekte der Pornografie veranschaulichten: Sehr viel mehr war da nicht gewesen.

«So, und deshalb schrecke ich ein bisschen davor zurück, mir das hier anzuschauen», sagte Gitanas. Auf seinem Computerbildschirm war das dämmrige Schwarz-Weiß-Foto eines von oben aufgenommenen Betts zu sehen, in dem sich unter den Decken ein Körper abzeichnete. «Der Hausmeister sagt, sie hat einen Freund, und ich hab mir ein bisschen was runtergeladen. Ich hatte noch die Überwachungsanlage vom Vorbesitzer drin. Bewegungsmelder, Infrarot, digitale Standbilder. Schauen Sie sich's an, wenn Sie wollen. Könnte interessant sein. Vielleicht auch heiß.»

Chip erinnerte sich sehr gut an den Rauchmelder, der an Julias Schlafzimmerdecke hing. Oft genug hatte er zu ihm hinaufgestarrt, bis ihm die Mundwinkel ausgetrocknet und die Augen nach hinten weggerollt waren. Er hatte das Gerät immer sonderbar kompliziert gefunden.

Jetzt richtete er sich ein wenig auf. «Vielleicht sollten Sie sich die lieber nicht anschauen.»

Gitanas hantierte sehr geschickt mit Maus und Tastatur. «Ich drehe den Bildschirm weg. Sie brauchen nicht hinzusehen.»

Rauchgewitterwolken ballten sich in den Gängen. Chip beschloss, dass er eine Muratti brauchte, doch wie sich zeigte, war es fast gleichgültig, ob er inhalierte oder Luft holte.

«Was ich meine», sagte er und verdeckte den Bildschirm mit der Hand, «ist, dass Sie die CD vielleicht lieber wieder rausnehmen sollten, anstatt sie sich anzuschauen.»

Gitanas war überrascht. «Warum sollte ich sie mir nicht anschauen?»

«Tja — denken wir doch mal darüber nach.»

«Vielleicht sollten Sie es mir sagen.»

«Nein, also, denken wir einfach bloß mal darüber nach.»

Einen Augenblick hatte die Stimmung etwas Wildvergnügtes. Gitanas musterte Chips Schulter, Knie und Handgelenk, als überlege er, wo er ihn beißen solle. Dann holte er die CD heraus und warf sie ihm ins Gesicht. «Scheißkerl!» «Ich weiß.»

«Packen Sie das Ding weg. Scheißkerl. Ich will es nie wieder sehen. Packen Sie's weg.»

Chip steckte die CD in seine Hemdtasche. Es ging ihm gar nicht schlecht. Es ging ihm ganz passabel. Das Flugzeug hatte inzwischen seine Reiseflughöhe erreicht, und sein Geräusch hatte etwas von dem stetigen, vagen weißen Brennen trockener Nebenhöhlen, der Farbe abgestoßener Plastikfenster, dem Geschmack kalten, bleichen Kaffees aus wieder verwendbaren Klapptisch-Tassen. Die nordatlantische Nacht war dunkel und einsam, aber hier, im Flugzeug, gab es Lichter am Himmel. Hier gab es Geselligkeit. Es war gut, wach zu sein und Wachheit rings um sich zu spüren.