«Also, was ist, haben Sie auch Zigaretten-Brandwunden?», fragte Gitanas.
Chip zeigte ihm seine Handfläche. «Nichts Schlimmes.»
«Selbst zugefügt. Sie armseliger Amerikaner, Sie.»
«Andere Art Gefängnis», sagte Chip.
JE MEHR ER DARÜBER NACHDACHTE, DESTO WÜTENDER WURDE ER
GARY LAMBERTS profitable Liaison mit der Axon Corporation hatte drei Wochen früher begonnen, an einem Sonntagnachmittag, den er in seiner neuen Farbdunkelkammer verbrachte, aufrichtig bemüht, Vergnügen am Abziehen zweier alter Fotografien seiner Eltern zu finden und, indem er tatsächlich Vergnügen daran fand, fürs Erste nicht mehr an seiner geistigen Gesundheit zu zweifeln.
Gary sorgte sich viel um seine geistige Gesundheit, doch als er am besagten Nachmittag aus seinem großen schiefergedeckten Haus an der Seminole Street trat und durch seinen großen Garten ging und die Außentreppe seiner großen Garage hinaufstieg, war das Wetter in seinem Kopf so warm und freundlich wie draußen, im Nordwesten Philadelphias. Die Septembersonne schien durch ein Gemisch aus Dunst und kleinen, grau gekielten Wolken, und soweit Gary seine Neurochemie überhaupt zu begreifen und nachzuvollziehen vermochte (schließlich war er Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank und kein Seelenklempner, vergessen wir das nicht), schienen ihm alle seine Hauptindikatoren einigermaßen stabil.
Obwohl Gary den aktuellen Trend zur individuellen Gestaltung von Altersgeldanlagen und Ferngesprächstarifen und privaten Bildungsoptionen im Prinzip begrüßte, war er alles andere als begeistert, auch die Verantwortung für seine persönliche Hirnchemie aufgehalst zu bekommen, zumal gewisse Menschen in seinem Leben, namentlich sein Vater, sich rundweg weigerten, eine solche Verantwortung zu übernehmen. Doch wenn man von Gary eines sagen konnte, dann das: Er war pflichtbewusst. Als er die Dunkelkammer betrat, schätzte er, dass sein Neurofaktor 3 (also Serotonin, ein sehr, sehr wichtiger Faktor) seit sieben, wenn nicht gar dreißig Tagen einen Höchststand verzeichnete, dass die Performance von Faktor 2 und Faktor 7 ebenfalls die Erwartungen übertraf und dass sich sein Faktor 1 von einem Tief am frühen Morgen, ausgelöst durch ein Glas Armagnac vor dem Schlafengehen, inzwischen erholt hatte. Er ging mit federndem Schritt, war sich seiner überdurchschnittlichen Körpergröße und seiner Spätsommerbräune aufs Angenehmste bewusst. Sein Groll gegen Caroline, seine Frau, hielt sich in wohlkontrollierten Grenzen. Die Leitsymptome seiner Paranoia (d. h. des hartnäckigen Verdachts, dass Caroline und seine beiden älteren Söhne sich über ihn lustig machten) zeigten mehr fallende als steigende Tendenz, und seine jahreszeitlich angepassten Gedanken zur Sinnlosigkeit und Kürze des Lebens korrespondierten mit dem robusten Allgemeinzustand seiner geistigen Ökonomie. Er war nicht das kleinste bisschen klinisch depressiv.
Er zog die samtenen Verdunkelungsvorhänge zu und schloss die lichtundurchlässigen Fensterläden, nahm einen Karton 10 x 15-Papier aus dem großen Stahlkühlschrank und schob zwei Zelluloidstreifen in den mechanischen Negativreiniger — einen aufreizend schweren kleinen Apparat.
Die Bilder seiner Eltern, von denen er Abzüge machen wollte, stammten aus der unglückseligen Dekade ehelichen Golfspiels. Eines zeigte Enid in einem tiefen Rough, wie sie, den Oberkörper vorgebeugt, missmutig durch die Sonnenbrille in die flirrende Herzland-Hitze blickte, mit der linken Hand den Schaft ihres leidgeprüften Holzes 5 umklammernd, während der rechte Arm verwackelt war, weil sie ihren Ball (ein weißer, verwischter Fleck am Rand des Fotos) heimlich auf den Fairway warf. (Sie und Alfred hatten immer nur auf flachen, geraden, kurzen, billigen öffentlichen Golfplätzen gespielt.) Auf dem anderen Foto sah man, wie Alfred, bekleidet mit engen Shorts, einer Midland-Pacific-Schirmmütze, schwarzen Socken und prähistorischen Golfschuhen, seinen prähistorischen Holz-Driver auf eine weiße, grapefruitgroße Tee-Markierung richtete und in die Kamera grinste, als wolle er dem Betrachter bedeuten: Einen so großen Ball könnte ich schlagen!
Nachdem Gary den Abzügen ihr saures Fixierbad verabreicht hatte, machte er wieder Licht und stellte fest, dass beide mit einem Netz aus seltsamen gelben Klecksen überzogen waren.
Er fluchte leise, nicht, weil ihm die Fotos so wichtig waren, sondern weil er seine gute Laune, seine serotoningesättigte Stimmung behalten wollte, und dazu brauchte er von der Welt der Gegenstände ein Minimum an Kooperation.
Das Wetter draußen gerann. Ein Geriesel war in den Rinnsteinen, und auf dem Dach, dort wo Äste überhingen, ein Getrommel von Tropfen. Durch die Wände der Garage hörte Gary, während er zwei weitere Abzüge machte, Caroline und die Jungen im Garten Fußball spielen. Er hörte Laufschritte und Ballgeräusche, seltener Rufe, das seismische Donnern von Ball auf Garage.
Als er das zweite Paar Abzüge mit den gleichen gelben Klecksen aus dem Fixierbad nahm, wusste Gary, dass er es für heute besser sein lassen sollte. Aber da klopfte es an der Außentür, und sein jüngster Sohn Jonah schlüpfte durch den Verdunkelungsvorhang.
«Du ziehst Fotos ab?», fragte Jonah.
Gary faltete die misslungenen Abzüge hastig zweimal zusammen und vergrub sie im Abfalleimer. «Hab gerade erst angefangen.»
Er mischte seine Lösungen neu und öffnete einen zweiten Karton Papier. Jonah setzte sich neben eine Dunkelkammerlampe und flüsterte vor sich hin, während er die Seiten eines der Narnia-Bücher umblätterte, Prinz Kaspian von Narnia, das Garys Schwester Denise ihm geschenkt hatte. Jonah ging in die zweite Klasse, aber als Leser hatte er schon das Niveau eines Fünftklässlers erreicht. Oft sprach er die geschriebenen Worte in einem artikulierten Flüsterton, der typisch für die ganze narnische Liebenswürdigkeit seines Wesens war, vor sich hin. Er hatte strahlende dunkle Augen, eine Oboenstimme und wieselweiches Haar, und selbst Gary sah in ihm bisweilen mehr ein sensibles Tier als einen kleinen Jungen.
Caroline mochte die Chroniken von Narnia nicht besonders — C. S. Lewis war ein notorischer katholischer Propagandist, und Aslan, der narnische Held, eine Christusgestalt mit Fell und Pfoten — , doch Gary hatte den König von Narnia als Junge gern gelesen und war, das konnte wohl als gesichert gelten, trotzdem kein religiöser Spinner geworden. (Vielmehr ein strikter Materialist.)
«Sie töten also einen Bären», berichtete Jonah, «aber es ist kein sprechender Bär, und Aslan kommt zurück, aber nur Lucy sieht ihn, und die anderen glauben ihr nicht.»
Gary tauchte die Abzüge mit der Pinzette ins Unterbrecherbad. «Warum glauben sie ihr nicht?»
«Weil sie die Jüngste ist», sagte Jonah.
Draußen, im Regen, hörte man Caroline lachen und rufen. Sie hatte den Hang, sich völlig zu verausgaben, um mit den Jungen mitzuhalten. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie ganztags als Anwältin gearbeitet, doch nach Calebs Geburt war sie durch eine Erbschaft zu Geld gekommen, und seitdem arbeitete sie nur noch halbtags, für ein philanthropisch geringes Gehalt, beim Kinderhilfswerk Children's Defense Fund. Ihr eigentliches Leben kreiste um die Jungen. Sie nannte sie ihre besten Freunde.
Vor sechs Monaten, am Vortag von Garys dreiundvierzigstem Geburtstag, waren, während er mit Jonah seine Eltern in St. Jude besuchte, zwei Monteure gekommen und hatten, als Geburtstagsüberraschung von Caroline, im Obergeschoss der Garage neue Strom- und Wasserleitungen verlegt und alles frisch verputzt. Gary hatte gelegentlich davon gesprochen, von den alten Familienfotos, die ihm die liebsten waren, Abzüge zu machen und sie in einem ledergebundenen Album zu sammeln: die zweihundert definitiven Lamberts. Aber die Bilder hätte ihm auch ein Fotogeschäft abgezogen, und inzwischen brachten die Jungen ihm bei, mit Bildverarbeitungsprogrammen umzugehen, und wenn er trotzdem einmal ein Labor gebraucht hätte, wäre es immer noch möglich gewesen, stundenweise eines zu mieten. Und so war ihm — nachdem Caroline ihn an seinem Geburtstag zur Garage geführt und ihm die Dunkelkammer gezeigt hatte, die er weder wollte noch brauchte — spontan zum Heulen zumute gewesen. Aus populärpsychologischen Büchern auf Carolines Nachttisch hatte er jedoch gelernt, die Warnsignale der klinischen Depression zu erkennen, und eines dieser Warnsignale, darin stimmten alle Experten überein, war die Neigung, in unpassenden Momenten zu weinen, und so hatte er den Kloß in seinem Hals hinuntergeschluckt, war in der teuren Dunkelkammer umhergesprungen und hatte Caroline (die sowohl die Reue des Käufers als auch die Unsicherheit des Schenkenden durchlitt) lautstark versichert, wie hellauf begeistert er sei! Und hatte dann, um sich selbst zu beweisen, dass von einer klinischen Depression keine Rede sein konnte, und um sicherzugehen, dass Caroline nichts dergleichen argwöhnte, beschlossen, zweimal die Woche in der Dunkelkammer zu arbeiten, bis das Album der zweihundert definitiven Lamberts fertig war.